Corona-bedingt um zehn Wochen später als geplant, aber doch, fand gestern der Auftakt zum chinesischen Volkskongress statt, dem wichtigsten politischen Ereignis des Jahres. Nicht per Video, sondern „in echt“ – und dass dies nun wieder möglich ist, ist eine der zentralen Botschaften Pekings: Man habe das Virus im Griff, das Schlimmste sei überstanden. Die rund 2900 Delegierten wurden mindestens zwei Mal auf das Virus getestet und trugen Mundschutz. Die Regierung trat „oben ohne“ auf.

Ungewisse Zeiten

Gelöst ist damit längst nicht alles. Wegen der schwierigen Situation infolge der Pandemie gab die chinesische Regierung erstmals seit Jahrzehnten überhaupt kein Wachstumsziel für die Wirtschaft bekannt. Zu unsicher sind die Zeiten. Die nach den USA zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt war im ersten Quartal um 6,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum geschrumpft – zum ersten Mal überhaupt seit Einführung der Quartalsstatistik 1992. Die Militärausgaben sollen 2020 um 6,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr steigen. Im Vorjahr war das Militärbudget noch um 7,5 Prozent angehoben worden. Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit den USA und Pekings Drohungen gegenüber Taiwan wird der Ausbau des chinesischen Militärs mit Sorge beobachtet.



Für Erschütterung in der Nachbarschaft Chinas sorgte aber eine Ankündigung von Regierungschef Li Keqiang in Bezug auf die Zukunft der Sonderverwaltungszone Hongkong: Peking werde ein „solides Rechtssystem“ und einen „Durchsetzungsmechanismus zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit“ in Hongkong schaffen. Mit anderen Worten: China erwägt Gesetze, die eine direkte Einmischung in Hongkong rechtfertigen sollen. Das könnte das Ende der „Ein Land, zwei Systeme“-Politik bedeuten, die im Übergabevertrag 1997 zwischen Großbritannien und Chinas damaligem Führer Deng Xiaoping ausgehandelt worden war. Auf die Ankündigung hin gaben die Kurse an Hongkongs Börse stark nach. Das Sicherheitsgesetz könnte „neue Unruhen schüren und Hongkongs Attraktivität als Finanzzentrum untergraben“, kommentierte die South China Morning Post.

Protestvakuum

Nach mehrmonatigen Protesten im Vorjahr ist es zwar wieder ruhig geworden in Hongkong. Protestüberdruss in der breiten Bevölkerung und das Coronavirus haben den politischen Widerstand in eine Zwangspause versetzt. Dieses Protestvakuum scheint Peking jetzt auszunutzen.
Eigentlich hätten Hongkongs Abgeordnete laut Verfassung Sicherheitsgesetze erlassen müssen, um „Hochverrat, Sezession und Aufruhr“ zu verhindern. Doch sie zögerten, Sicherheitsgesetze zu verschärfen – aus Angst, dass ein solcher Schritt noch größere Proteste gegen Peking auslösen würde. Letzteres nimmt nun die Initiative in die eigene Hand. Fortan soll China die Rechtsstruktur in Hongkong umgehen können, um selber im Territorium einzugreifen.

Auf der Kippe

Damit steht auch die „Ein Land, zwei Systeme“-Politik auf der Kippe, die Hongkong weitgehend Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zusichern soll. Unter dieser Politik schienen der ehemaligen britischen Kronkolonie weitere 50 Jahre Kapitalismus ohne Eingriffe Pekings sicher. Doch das Abkommen wurde von China schon in den ersten Jahren untergraben. Als das Festland auch schrittweise den geplanten Direktwahlen einen Riegel vorzuschieben begann, wuchs in Hongkong das Misstrauen gegenüber den Absichten der kommunistischen Machthaber in Peking weiter. Auch ältere Menschen schlossen sich den Protestmärschen an. Hunderttausende füllten die Straßen.

Flaggen verbrannt

Chinas stets lächelnder Präsident Xi Jinping, der als der autoritärste Führer des Landes seit der Mao-Ära gilt, hat die Unruhen in Hongkong lange Zeit mit Ungeduld beobachtet. Die Demütigungen Chinas waren zahlreich – etwa das Verbrennen von chinesischen Flaggen und Beschmieren von Staatssymbolen. Die neuen Sicherheitsgesetze dürften Peking den Weg für eine direkte Intervention in Hongkong ebnen. Die Folgen einer solchen Politik könnten verheerend sein für das einstige Kronjuwel der Briten. In der Küstenmetropole könnten noch größere und gewalttätigere Proteste drohen als zuletzt. Auch freie Meinungsäußerung ist mehr gefährdet denn je.


Über das Nadelöhr verlief einst praktisch der gesamte Handel zwischen dem Reich der Mitte und der Außenwelt. Heute hat Hongkong längst nicht mehr diese Rolle inne, die es einst berühmt machte. Andere chinesische Metropolen wickeln ihren Handel nun direkt mit den Weltmärkten ab. Die Hongkonger versuchen dennoch, ihre letzten Freiheiten zu bewahren.