Herr Knaus, Sie warnen schon seit Längerem vor der nächsten großen Flüchtlingskrise. Ist sie jetzt da?
GERALD KNAUS: Ja. Und dies sollte niemanden überraschen. Zwei Dinge kommen zusammen. In der Türkei wächst seit Anfang letzten Jahres der politische Druck auf die Regierung, die 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Nun droht eine neue große Flucht Hunderttausender aus Idlib. Vor diesem Hintergrund hat die EU dabei versagt, klarzumachen, dass sie aus Eigeninteresse die Türkei weiterhin bei der Integration der größten Zahl von Flüchtlingen in einem Land in der Welt unterstützen wird. Dazu wächst in Griechenland seit letztem Sommer der Druck. Es sind in drei Monaten im Herbst fast 30.000 Menschen auf die Inseln gekommen. Dort war die Lage immer schlecht. Nun kam es zur Explosion. Dort sind heute über 40.000 Asylsuchende unter unzumutbaren Umständen. Im Jänner 2020 wurden 2000 auf das Festland gebracht, aber mehr als 3000 kamen an. Heute waren es über 500 an einem Tag. In einem Monat werden es 15.000 sein. Das Ergebnis: Ankara und Athen stehen unter enormem Druck.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus: "Grenzen lassen sich nicht kurzfristig schließen"
Der Migrationsforscher Gerald Knaus: "Grenzen lassen sich nicht kurzfristig schließen" © ESI, Francesco Scarpa

Rechtfertigt das, dass die Türkei im Winter Flüchtlinge an die Grenze zu Griechenland lockt?
Nein. Aber auch die Gewalt an der Grenze vonseiten der griechischen Behörden verstößt gegen europäisches Recht. Doch wir dürfen nicht vergessen: Das eine Land hat seit Jahren dreimal mehr Syrer aufgenommen als die ganze EU. Das andere hat seit Jahren pro Kopf die höchsten Asylantragzahlen in Europa.

Hat der Ansturm das Potenzial einer Neuauflage von 2015?
Die Geschichte wiederholt sich nie genau, aber was die Belastung in Griechenland betrifft, ist die Situation schon jetzt schlimmer als 2015. Auch in der Türkei ist der Druck größer. Dazu kommt die Gewöhnung der Öffentlichkeit an Gewalt an Europas Grenzen. Wenn die Dinge weiterlaufen wie in den letzten Monaten, wird die Glaubwürdigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention als Wert Europas das Jahr 2020 nicht überleben.

Rächt es sich, dass die EU sich einem unberechenbaren Autokraten wie Erdoğan ausgeliefert hat?
Die Türkei hat der EU Anfang März 2016 ein Angebot gemacht: Obwohl sie schon damals viel mehr Flüchtlinge im Land hatte als die gesamte EU, war sie bereit, Menschen – nach Asylverfahren in Griechenland, bei denen in der EU beschlossen wurde, ob jemand in der Türkei sicher war – ab dem 20. März zurückzunehmen. Dafür forderte sie finanzielle Unterstützung bei der Integration der Syrer im Land. Das hat vier Jahre lang sehr gut funktioniert. Die Lage der Syrer in der Türkei hat sich verbessert. 25.000 wurden von der EU übernommen. Heute gehen 680.000 syrische Kinder in der Türkei in die Schule. Das wurde von der EU mitfinanziert. Ein Ergebnis: 2019 sind 99,5 Prozent der Syrer in der Türkei geblieben. Nur wenige sind in Boote gestiegen. Dass das vier Jahre gehalten hat, zeigt, was notwendig war. Es war fahrlässig, das nicht fortzusetzen.

Erdoğan will Europas Solidarität für sein syrisches Abenteuer erzwingen. War die EU naiv?
Es geht nicht um Solidarität mit der türkischen Syrienpolitik. Es geht um Unterstützung für jene, die unter der größten Flüchtlingskatastrophe der Welt seit Anfang der 70er-Jahre leiden, und um Gemeinden, die diese Flüchtlinge aufgenommen haben. Heute sind in der Türkei vier Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge. Diese werden fast alle bleiben, die meisten sind vor Assad geflohen. Das ist eine der größten Integrationsherausforderungen der Geschichte. Das ist so, als hätte Österreich 400.000 Menschen aufgenommen, und heute stünden weitere 200.000 an der Grenze.

Ist der von Ihnen mitersonnene Migrationspakt gescheitert?
Die EU-Türkei-Erklärung wurde von der Türkei vor drei Tagen aufgekündigt. Für vier Jahre hat sie dazu geführt, dass viel weniger Menschen über das Meer in die EU kamen, dass viel weniger ertranken und dass sich die Lage der Menschen in der Türkei verbesserte. Auf den griechischen Inseln hat die Umsetzung nie funktioniert, auch als 2017 und 2018 nur 30.000 Menschen im Jahr ankamen. In den zwölf Monaten vor der Einigung waren es eine Million. Hier hat Europa versagt, denn natürlich hätte man 30.000 Asylanträge im Jahr in einer gemeinsamen Anstrengung schnell bearbeiten und diese Menschen menschenwürdig unterbringen können. Die Zeit wurde aber nicht genutzt. Alle diese Probleme waren von Anfang an bekannt. Doch da die Zahl der Ankommenden niedrig blieb, reagierte man nicht. Auf den Inseln gab es von Anfang an unzumutbare Bedingungen, aber im Rest Griechenlands und Europas schien alles unter Kontrolle. Dass man auch ignorierte, wie wichtig für Ankara die Unterstützung für Flüchtlinge im Land war, ist schwer zu erklären.

Ist die EU für einen neuen Ansturm besser gewappnet als 2015?
Nein. Wenn jeden Tag 500 Menschen über das Meer kommen, wird die Situation in Griechenland und dann auf dem gesamten Balkan unbeherrschbar. Dann wird jedes Land versuchen, Menschen durch schlechte Behandlung abzuschrecken. Doch wer einmal in der EU ist, wird nicht aufgeben. So wird eine ganze Region destabilisiert.

„Österreich wird seine Grenzen schützen“, sagt Kanzler Sebastian Kurz. Aber wie realistisch ist das bei einem neuen Ansturm?
Österreich könnte versuchen, das zu machen, was der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seit 2015 macht: Asylsuchende so schlecht zu behandeln, dass sie lieber in andere Länder der EU ziehen. Doch würde diese Koalition so eine Politik überleben? Doch Grenzen lassen sich nicht kurzfristig schließen. Auch die Schweiz hat ihre Grenzen 2015 nicht geschlossen. Sie wusste, dass dies nicht funktionieren würde, ohne einen Zaun zu bauen, wie er von Orbán gebaut wurde.

Die Grenzen aufzureißen würde das Migrationsproblem aber auch nicht lösen, oder?
Nein. Es gab dafür in Griechenland auch 2015 unter der Syriza- Regierung keine Mehrheit und in der EU kein Land, das dazu bereit wäre. Es geht darum, humane Kontrolle zu haben. Und Realismus, wie die EU ihre Werte und Konventionen verteidigen kann. Dazu aber braucht sie Partner.