Der Dissens erfolgte auf offener Bühne. „Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede“, gab Gastgeberin Angela Merkel nach dem Gespräch mit Sebastian Kurz ganz unumwunden zu. Auch der brachte die Differenzen offen zur Sprache. „Eine Neuauflage der EU-Rettungsmission Sophia im Mittelmeer lehnen wir ab“, sagte der Gast aus Österreich in Berlin. Die deutsche Kanzlerin hatte eine solche Mission angeregt - auch, um das im Jänner auf einer internationalen Konferenz in Berlin vereinbarte UN-Waffenembargo für Libyen umzusetzen. Er sehe nicht, was eine „Kontrollfunktion mit einer Rettungsfunktion zu tun habe“, sagte der Kanzler knapp und die deutsche Kanzlerin schluckte. 

Dennoch war vieles anders beim Besuch des gerade erneut angelobten Regierungschefs. In den schwarz-blauen Zeiten galt schon allein eine Reise des deutschen Innenministers Horst Seehofer nach Wien als Provokation gegen Merkel und ihre Flüchtlingspolitik. Nun gibt sich nicht nur Seehofer altersmilde. Kurz regiert mit neuem Partner. „Grenzschutz und Klimaschutz“, umschrieb er das Programm von Türkis-Grün und schob gleich hinterher: „Hundert Prozent Erneuerbare im Jahr 2030, klimaneutral bis 2040.“ Vor solchen Ambitionen schrumpfte Merkel zur Klimakanzlerin a.D. Die Stimmung zwischen beiden ist deutlich ausgelassener als bei frühreren Gesprächen.

Kleiner Seitenhieb auf Finanzminister Scholz

Von einem „sehr guten Gespräch“ sprach Merkel und gestattete dem Gast, dass er nicht nur die europäische Finanztransaktionssteuer auf Börsengeschäfte rügte, sondern gleich auch den federführenden deutschen Finanzminister Olaf Scholz von den Sozialdemokraten. Süffisant lobte Kurz denn auch die eigene Steuerreform. Das kriegt Deutschland derzeit nicht hin. Merkels große Koalition ist ein Bündnis mit Restlaufzeit. Spätestens 2021 ist Schluss. Dann zieht sich auch Merkel aus der Politik zurück. So geht es der Kanzlerin längst um mehr: Europa in geordnete Bahnen lenken. Selbst Änderungen der EU-Verträge schloss Merkel am Montag nicht mehr aus. Kurz blieb dann doch auffällig still.

Merkel verfolgt eine eigene Agenda. Im Juli übernimmt Deutschland den Ratsvorsitz unter den EU-Staaten. Dann hat Merkel sechs Monate Zeit, ihren Nachlass zu regeln. Der Brexit ist Fakt, die EU-Etatverhandlungen bis 2027 stehen an. „Wir sind beide Nettozahler“, sagte Merkel und Kurz ergänzte: Die von der EU-Kommission vorgeschlagenen 1,11 Prozent der jährlichen Wirtschaftskraft für den mehrjährigen EU-Etat seien „zu hoch“. 1,0 Prozent bietet Österreich gemeinsam mit den „Frugal 4“, den sparsamen Partnern aus Holland, Dänemark und Schweden. 

Neusortierung in der EU

Österreich macht mobil. Nach dem Brexit beginnt Europa sich neu zu sortieren. Holland hat die Hanse wiederbelebt, ein Pakt der marktliberalen Nordländer. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bemüht sich neuerdings um den Osten, am Montag reiste er nach Polen. In Zeiten sich neu formierender Koalitionen sind belastbare Unterhändler wie Österreich gefragt, mit guten Kontakten zu den Visegrad-Staaten oder Kenntnissen auf dem Balkan etwa. 

Deutschland bleibt in diesem Spiel um neue Allianzen merkwürdig passiv. Der Klops in der Mitte Europas ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Autoindustrie sucht eine Antwort auf die Elektromobilität, die SPD kämpft gegen die Selbstauflösung und die Union müht sich um Definition des Konservatismus im 21. Jahrhundert. 

Ein Vorbild für viele Christdemokraten

Sebastian Kurz galt mit seiner strikten Flüchtlingspolitik vielen Christdemokraten - nicht nur in Deutschland - als Vorbild. Dann rüttelte das Bündnis mit der FPÖ an einem europaweiten Tabu. Nun kommt der Kanzler nach kurzer Auszeit türkis-grün gewendet nach Berlin und weckt in Deutschland ganz neue Hoffnungen. Er habe sich für Schwarz-Grün ausgesprochen, wird Kurz gefragt. Der Kanzler unterbricht ganz undiplomatisch: „Das hab’ ich so nicht gesagt.“ Er weiß, es schickt sich nicht, sich in die Innenpolitik anderer Länder einzumischen. Er führt dann doch aber konziliant aus: Man habe in Österreich eine neue Form der „Kompromissfindung“ gefunden. Smells like Wien Spirit - mitten in Berlin. 

Einen koalitionsfreien Raum, den kennen sie nicht beim Nachbarn. Hier herrscht eine andere Koalitionsarithmetik. Statt des größten gemeinsamen Vielfachen suchen sie in Berlin den kleinsten gemeinsamen Nenner. Auch deshalb ist das Land blockiert. Auch deshalb schielen sie nach Wien. Sprachbarrieren seien abgebaut worden, erinnerte Merkel an die gescheiterten Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition. Auch sie hielt sich mit Ratschlägen zurück. „Die Antwort muss der Wähler geben“, sagte Merkel. Auch sie schielt ein bisschen nach Wien.