Die schottische Nationalpartei SNP ist neben Boris Johnson der große Gewinner dieser Wahl. Das Ergebnis nahm SNP-Chefin Nicola Sturgeon rasch zum Anlass, ein neues Unabhängigkeitsreferendum zu fordern. Beim ersten Referendum 2014 ging es nur knapp gegen die Abspaltung von Großbritannien aus. Was kommt da noch?
Melanie SULLY: Zunächst einmal ist Schottland mit Großbritannien im Februar aus der EU draußen. Und alle Verhandlungen über einen EU-Beitritt müsste Schottland ab diesem Moment als Nicht-EU-Land führen samt Überlegungen, was es bedeuten würde, wenn es eine Grenze zwischen Schottland und England gebe. Da hatten wir doch kürzlich eine so lange Diskussion darüber in Irland! Aber übernächstes Jahr gibt es eine Parlamentswahl in Schottland: Schneidet die SNP dann gut ab, rückt ein Referendum näher. Vielleicht würde Boris Johnson das dann sogar genehmigen, weil er sonst die Kontrolle verlieren würde. Aber letztlich muss die Zustimmung für ein Referendum aus London kommen.


Droht Großbritannien zu zerbrechen?
SULLY: Die Spaltungen zwischen den Regionen und Generationen ist seit dem Brexit-Referendum nicht weniger geworden. Aber unmittelbar, sofort, sehe ich keine Gefahr, denn ein Abspaltungsprozess geht nicht von heute auf morgen, das ist eine langwierige Entwicklung. Aber längerfristig besteht natürlich die Gefahr, dass Großbritannien Schottland verlieren könnte.

Die britische Politologin Melanie Sully leitet das Go-Governance-Institut in Wien
Die britische Politologin Melanie Sully leitet das Go-Governance-Institut in Wien © Weingartner

In Nordirland erhielten die Nationalisten erstmals seit der Abspaltung von Irland 1921 mehr Stimmen als die pro-britischen Unionisten: Was braut sich da zusammen?
SULLY: Es wird sehr darauf ankommen, wie das Handelsabkommen Großbritanniens mit der EU aussieht, und das wissen wir noch nicht.


Sind die Fliehkräfte, die Großbritannien in Schottland, Wales und Nordirland zusetzen, stark wie nie?
SULLY: In Wales sind die Abspaltungstendenzen nicht so stark. Labour ist in Wales total abgestürzt, weil das auch eine ganz starke Brexit-Region ist. In Nordirland gibt es ein Abspaltungspotential, in Schottland sowieso.


Wird Boris Johnson um den Erhalt Großbritanniens kämpfen müssen?
SULLY: Ja, das ist seine große Herausforderung. Nicht sofort, aber im Laufe der Jahre 2020/21 kommt das sicher auf den Tisch.


Ist das der Preis, den Großbritannien für den Brexit zahlen muss: Dass aus Großbritannien Little Britain wird?
SULLY: Ja, aber die Ursachen, die zum Brexit geführt haben, waren im Grunde diese Brüche, Spaltungen und tiefen Kluften im Land. Die ganze Brexit-Angelegenheit hat die Fliehkräfte nur beschleunigt.