Ein Königreich für einen Ausweg: Bevor heute Abend um 20 Uhr eine Abstimmung im britischen Parlament beginnt, die schon jetzt ihren Platz in künftigen Geschichtsbüchern hat, versucht man auf beiden Seiten des Ärmelkanals in letzter Sekunde, Wege durch das Chaos aufzuzeigen. Die Hoffnung ist gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ausstiegsvertrag abgelehnt wird, ist groß. Was dann passiert, ist unklar.

Aber der Reihe nach: Wie angekündigt, sandten gestern EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk einen Brief nach London. Ein letztes Mal versuchten sie, die Einwände der Vertragsgegner wegen des „Backstop“ zu entkräften. Die Garantie für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland wird neuerlich als reine Rückversicherung dargestellt, die möglichst nie genutzt werden solle, und wenn doch, dann nur übergangsweise, bis eine bessere Lösung gefunden sei. Und die EU bestätigte, dass diese Zusicherungen „juristischen Wert“ haben. Das hatten sie davor schon getan. Ein Öffnen des fertigen Vertrages wird abermals ausgeschlossen. Allerdings erscheint eine Verschiebung des Brexits, der für 29. März festgelegt ist, in Brüssel zunehmend möglich.

Gleichzeitig mit Beginn der Plenarsitzung in Straßburg kam ein weiterer Brief in London an, unterfertigt von mehr als 100 EU-Abgeordneten der EVP, der Sozialdemokraten, der ALDE und der Grünen. Sie wünschen sich, dass die Briten in der EU bleiben. „Wir bitten darum, im Interesse der nächsten Generation den Austritt zu überdenken“, heißt es in dem Schreiben, das vom SPÖ-Abgeordneten Josef Weidenholzer initiiert wurde.



In London hatte man aber zunächst anderes zu tun. Premierministerin Theresa May sprach vor Fabrikarbeitern in Stoke-on-Trent und lehnte dabei sowohl eine Abkehr vom Brexit als auch eine Verschiebung ab. Ein No-Deal-Brexit würde die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit und eines Zusammenschlusses von Nordirland und Irland stärken, warnte May bei einer Ansprache im Parlament – das Land könnte auseinanderbrechen. Am Tag vor der Abstimmung verlor sie aber auch noch einen wichtigen „Stimmenbeschaffer“, den konservativen Abgeordneten Gareth Johnson, der mit der Backstop-Lösung nicht einverstanden war. Bei der irischen DUP war der Brief von Juncker und Tusk ebenfalls abgelehnt worden: Nichts sei darin neu.
Heute blicken alle gebannt nach London. Wir haben die wichtigsten Begriffe rund um den Brexit zusammengefasst:

Artikel 50. In Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union ist das Verfahren für den Austritt von Mitgliedsstaaten, die die EU verlassen wollen, beschrieben. Der Artikel wurde 2007 mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt. Das Vereinigte Königreich ist das erste Mitgliedsland, das davon Gebrauch macht – fast alle Fragen sind deshalb völliges juristisches (und politisches) Neuland.

Ausstiegsvertrag. Es brauchte fast 18 Monate harter Arbeit, bis EU-Chefverhandler Michel Barnier und seine wechselnden Gegenüber aus London das 585 Seiten starke Werk verhandelt hatten, über das heute abgestimmt werden soll. Der Vertrag enthält allerdings keine konkreten Maßnahmen – er beschreibt vielmehr die Rahmen und die gemeinsam formulierten Wünsche und Ziele. Die tatsächlichen Verhandlungen über konkrete Abkommen können erst mit dem Tag des tatsächlichen Austritts beginnen. Auch deshalb ist die Haltung der Briten schwer zu verstehen: Der Vertrag ist bloß die Grundlage, aber ohne die geht es nicht.

Backstop. Damit scheint derzeit alles zu stehen oder zu fallen. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ist die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verschwunden – und das soll auch nach dem Brexit so bleiben. Doch Nordirland gehört zu Großbritannien, der Süden zur EU. Vor allem für den Handel muss man hier innerhalb der Übergangsfrist eine Lösung finden, was extrem schwierig ist. Falls das scheitert, hat man als Notfallslösung den Backstop entwickelt, eine Auffanglösung, die Nordirland eine Sonderstellung einräumen würde – allerdings nur vorübergehend. Gerade das bezweifeln die Gegner, die fürchten, die EU könnte das als dauerhaft belassen und damit ganz Großbritannien in eine unerwünschte Handelsunion zwingen.

DUP. Die nordirische Protestantenpartei ist mit zehn Stimmen „Mehrheitsbeschafferin“ für May – und bis gestern Abend erklärte Gegnerin des Deals.

No Deal. Scheitern alle Versuche, scheiden die Briten am 29. März ohne Vertrag aus. Die Folgen wären für Wirtschaft und Gesellschaft enorm, die Vorbereitungen laufen aber längst.