An einem Freitagvormittag schickt der 15-jährige Jaylen Fryberg, Schüler an der Marysville Pilchuck Highschool im US-Bundesstaat Washington, eine SMS an seine Schulfreunde. Sie sollen ihn, den beliebten „homecoming prince“ mit den pechschwarzen, langen Haaren, in der dortigen Cafeteria treffen. Wer eine Schulstunde hat, solle diese schwänzen. Um 10.40 Uhr, als fünf seiner Freunde in der voll besetzen Halle an einem Tisch versammelt sind, holt er die Pistole seines Vaters aus dem Rucksack und erschießt sie. Vier Kinder sterben, Fryberg richtet sich selbst. Wenige Minuten zuvor hatte er sich per SMS bei seiner und den Familien der Opfer entschuldigt und Instruktionen für seine Beerdigung gegeben.

Vier Jahre später sitzt Cheyenne Coe in einem Diner, 40 Autominuten von ihrer alten Schule entfernt. Sie hat im Sommer ihren Abschluss gemacht, jetzt geht sie zur Uni, um Krankenschwester zu werden. Sie ist 19, aufgeweckt, offen und hat ein strahlendes Lächeln. Dass Cheyenne hier sitzt, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn auch sie hätte von einer Kugel aus der Waffe von Fryberg, den sie seit der Volksschule kannte, getroffen werden können.

Cheyenne, in Begleitung einer Freundin, ist bis heute äußerst schreckhaft.
Cheyenne, in Begleitung einer Freundin, ist bis heute äußerst schreckhaft. © Knoll

"Es klang dumpf"

„Es war ein ungewöhnlich warmer Freitag“, erinnert sich Cheyenne, die damals erst eineinhalb Monate in die neue Highschool gegangen war. „Ich war auf dem Weg in die Cafeteria, als ich vor dem Gebäude von Weitem ein Mädchen sah, mit dem ich sonst eigentlich nie geredet habe,“ erzählt sie. „Ich kann es mir bis heute nicht erklären, aber ich bin wie hypnotisiert zu ihr hinüber gegangen.“ Die beiden Mädchen haben keine fünf Minuten miteinander gesprochen, als sie von einem Geräusch unterbrochen werden, das sie nicht zuordnen können. „Es klang dumpf. Wir dachten, dass jemand in der Cafeteria einen Tisch umgeworfen haben dürfte, und redeten weiter. Doch da war es wieder: Papp ... papp, papp.“ Als die Mädchen zum Gebäude hinter sich blicken, strömten schreiende Mitschüler aus den Eingängen. „Sie haben geschrien und ‘Er hat eine Waffe’’ gerufen. Mein Körper war wie gefroren, ich konnte mich nicht bewegen. Dann hatte ich ein Blackout.“

Wenn Cheyenne von diesem Tag erzählt, wird ihre überschwängliche, helle Stimme dumpf und leise. Das nervöse Lachen verstummt, sie verschränkt die Arme vor ihrer Brust oder knetet ihre Hände, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervorschimmern.

"Jeder, einfach jeder mochte sie"

Doch der 24. Oktober vor vier Jahren sollte noch mehr für Cheyenne bereithalten. Als sie im Büro der Direktorin zu sich kommt, in das sie in Panik gelaufen war, holen sie bald darauf ihre Eltern ab – und fahren mit ihr ins Krankenhaus. Dort erfährt sie vom Tod von Zoe Galasso – ihrer besten Freundin und Nachbarin, seit sie drei Jahre alt war. „Der schlimmste Tag meines Lebens wurde noch schlimmer.“ Zoe war eine jener Freunde, die Fryberg zu sich bestellt und erschossen hatte. Sie sei ein wunderbarer Mensch gewesen, erzählt Cheyenne und ihre Stimme beginnt zu zittern. „Sie hatte wunderschöne, dicke, dunkelbraune Haare. Jeder, einfach jeder mochte sie.“

Vor dem Diner blitzt es – eine Radarfalle. Cheyennes Körper zuckt – wie von einem Stromschlag getroffen – zusammen. Als sie die Quelle des Blitzes zuordnen kann, lacht sie nervös. „Leider bin ich seit damals sehr schreckhaft“, sagt sie. „Schon Kleinigkeiten reichen manchmal aus, um mich in Panik zu versetzen.“ Jeder Neuankömmling im Lokal wird an diesem Abend beim Eintreten vom unruhigen Blick der 19-Jährigen begrüßt.

In diesem Sommer, vier Jahre später, feierte der betroffene Jahrgang – damals Erstklässler – seinen Abschluss. Für die Verstorbenen wurde ein leerer, mit Blumen geschmückter Stuhl auf die Bühne gestellt, erinnert sich Cheyenne. Seit 2014 ist viel passiert. In zahlreichen Schulen werden heute Schießereien geübt wie hierzulande ein Feueralarm, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. „Wir hatten das nicht. Aber nachdem solche Dinge so oft passieren, muss man das wohl üben.“

In zwei Jahren will sie eine Waffe kaufen

In zwei Jahren ist Cheyenne 21. Dann wird sie sich eine Waffe kaufen und bei sich tragen. Im Bundesstaat Washington ist das erlaubt – mit einem eigenen Ausweis. „Ich bin mit Waffen aufgewachsen“, erklärt sie. „Ich würde mich mit einer Waffe in der Tasche einfach sicherer fühlen. Damit kann ich mich und andere beschützen.“ Mit den aktuellen Waffengesetzen ist sie dennoch nicht zufrieden. „Ich bin bereit, jeden psychologischen Test zu machen und mich überall zu registrieren, damit ich meine Waffe bekomme“, erklärt sie mit ernstem Blick. „Wenn ich im Gegenzug sicher sein kann, dass der Staat alles dafür tut, dass Waffen nur in den Händen von anständigen Leuten landen.“