Herr Inzko, im März 2019 werden es zehn Jahre, dass Sie Hoher Repräsentant in Sarajevo sind. Manchmal wirken Sie zuversichtlich, oft müde. Wie erleben Sie Bosnien nach so vielen Jahren?
VALENTIN INZKO: Man kann nicht unentwegt hyperaktiv sein. Es gibt auch bei meiner Arbeit ein Auf und Ab. Im Vergleich zu meinen ersten Jahren in Bosnien hat es ein Umdenken in der internationalen Gemeinschaft gegeben. Früher war unser Ansatz robuster. Wir hatten die Zügel fester in der Hand. Ähnlich wie die Alliierten in Österreich in den ersten Jahren nach dem Krieg. Nun legen wir mehr Wert auf lokale Verantwortung, aber ehrlich gesagt, mit Ausnahme der EU-Reform-Agenda, gab es kaum größere politische Fortschritte.

Was läuft schief im Land?
INZKO: Bedauerlicherweise sind die Kriegsziele für einige Politiker die gleichen geblieben. Sie wollen den Staat zerstören. Man hat den Spruch von Clausewitz nur umgedreht. Die Politik ist für manche nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen, politischen Mitteln. Es gibt zu wenig Dialog, zu wenig Vertrauen.

Was macht Ihnen persönlich am meisten zu schaffen?
INZKO: Die mangelnde Rechtsstaatlichkeit, der mangelnde Gesprächswille, die gespaltene Gesellschaft, das zu geringe Tempo.

Gibt es auch Dinge, die Sie hoffnungsfroh stimmen?
INZKO: Das sind die Menschen. Tolle Begabungen, ungemein kreativ und oft sehr erfolgreich. Schon einige Jahre sitzt im House of Lords in London die Bosnierin Arminka Helic, auch die jüngste Unterrichtsministerin Schwedens, Aida Hadzialic mit ihren damals 27 Jahren, stammte aus Bosnien, ebenso 2017 der beste Banker Schwedens. In Österreich sind der frühere Telekom-Chef Boris Nemsic sowie der legendäre Sturm-Graz-Trainer Ivica Osim ein Begriff, wie auch viele Fußballer, nicht nur Edin Dzeko und Zlatan Ibrahimovic. Es gibt aber ebenso viele Talente, die Bosnien-Herzegowina nie verlassen und ihren Weg zu Hause gemacht haben. Denken wir nur an den Oskar für den Film „No Man’s Land“, zwei Goldene Bären in Berlin oder eine Goldene Palme in Cannes. Gern wird vergessen, dass Bosnien-Herzegowina zwei Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Einen in Literatur, Ivo Andric, und einen in Chemie, Vladimir Prelog. Grund genug, trotz aller Schwierigkeiten optimistisch zu sein.

Warum fallen völkische Hassparolen in Bosnien immer noch auf so fruchtbaren Boden?
INZKO: Jedes Jahr finden in Srebrenica und anderswo Bestattungen von Opfern aus dem Krieg 1992 bis 1995 statt. Noch immer werden Massengräber geöffnet. Der Krieg ging vor 23 Jahren zu Ende, es gibt aber noch immer offene Wunden und Angst. Die Erinnerung an den Krieg ist noch frisch. Das ist fruchtbarer Boden für manche Parteiführer.
Wie groß ist die Gefahr, dass Bosnien-Herzegowina zerbricht?
Bosnien gibt es seit gut 1000 Jahren, ich bin zuversichtlich, dass es trotz zahlreicher gegenwärtiger Probleme nicht dazu kommen wird. Es ist nicht einmal in Kriegszeiten zerbrochen.

Was lässt sich gegen die nationalistische Instrumentalisierung der Vergangenheit tun?
INZKO: Die Hauptverantwortung liegt bei den lokalen Akteuren. Aber wir als internationale Gemeinschaft haben ebenfalls Fehler gemacht. Warum haben wir nicht einfach das phänomenale Versöhnungsmodell der einstigen Erzfeinde Frankreich und Deutschland kopiert? Massiver Jugendaustausch, gemeinsame Geschichtsbücher, gemeinsame Regierungssitzungen. Warum haben Deutsche und Franzosen den gemeinsamen Fernsehkanal Arte, während es am Balkan nichts Ähnliches, von Europa Finanziertes gibt? Man müsste in den Schulen ansetzen, müsste Politiker für Völkerverhetzung aus dem zivilisierten Europa ausschließen und bestrafen. Wo sonst in Europa dürfen verurteilte Kriegsverbrecher verherrlicht und Studentenheime nach ihnen benannt werden?

Gibt es gar keine Versuche, die Wunden des Krieges zu heilen?
INZKO: Auf höchster politischer Ebene kaum. Im realen Leben gibt es jedoch unglaubliche Geschichten. Da bringt ein muslimischer Hodscha ein älteres katholisches Ehepaar mit seinem Golf jeden Sonntag zur Messe, ein anderer Muslim renoviert die Fassade einer katholischen Kirche, für den Wiederaufbau der zerstörten orthodoxen Kathedrale in Mostar spenden Serben, Muslime und Katholiken. In der von Doraja Eberle, der früheren Salzburger Landesrätin, gegründeten Musikschule in Srebrenica spielen Bosniaken und Serben zusammen Mozart.

Die Jungen verlassen das Land in Scharen. Wie kann Bosnien da jemals zukunftsfroh werden?
INZKO: Für mich ist die mangelnde Rechtsstaatlichkeit das größte Problem, die Korruption. Das, gepaart mit der instabilen politischen Lage, ist Grund genug, das Land zu verlassen. Die meisten gehen aber, weil sie keine Arbeit haben. Es ist eine Tragödie enormen Ausmaßes.

Wie groß ist die Gefahr, dass Bosnien sich aus Enttäuschung über die EU von Europa abkehrt und anderen Mächten zuwendet, Russland etwa oder der Türkei?
INZKO: Die Bewohner von Bosnien-Herzegowina sind begeisterte Europäer. Manche so sehr, dass sie sofort in die EU auswandern würden, wie Hunderttausende vor ihnen. Erweiterungskommissar Johannes Hahn ist monatlich mindestens einmal am Balkan. Er versteht die Lage ausgezeichnet. Manche westliche Politiker haben aber für Bosnien keine Zeit. Das ist ein Fehler. Der russische Präsident Wladimir Putin hat immer Zeit. Er hat vor einer Woche am Rande des Grand Prix in Sotschi zum achten Mal den Serbenführer Milorad Dodik empfangen. Außenminister Sergei Lawrow war kürzlich in Sarajevo und Banja Luka. Die EU wird nicht umhinkommen, das Tempo der Reformen in Bosnien-Herzegowina zu beschleunigen. Die europäische Perspektive muss realer werden.

Viele machen die Verfassung von Dayton für die Misere verantwortlich, weil es die mit Gewalt herbeigeführte Teilung festschreibt. Teilen Sie den Befund?
INZKO: Der Dayton-Vertrag ist ein Friedensvertrag und als solcher ungemein erfolgreich. Als Verfassung ist er aber kompliziert. Jeder ist jedermanns Geisel und drei Personen können den ganzen Staat blockieren.

Lässt sich das ändern?
INZKO: Ja. Es gab mehrere Versuche einer Verfassungsreform, alle sind gescheitert. Sie wird aber kommen müssen. Es ist aber zu früh, darüber zu sprechen. Wie war das mit der europäischen Verfassung? Das ist alles sehr mühsam, aber unausweichlich.

Wer könnte das ändern?
INZKO: Nur eine lokale Kraftanstrengung könnte dies bewerkstelligen, aber das wäre nur in Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft möglich.

Im Kosovo will man die Blockade durch Gebietstausch überwinden. Was hieße das für Bosnien?
INZKO: Ich lehne das für Bosnien-Herzegowina ab. Ich weiß auch nicht, welche Gebiete man da gegen welche tauschen würde. Bosnien ist territorial ein kompakter Staat, so groß wie Belgien und Slowenien. Außerdem sieht der Dayton-Friedensvertrag einen Gebietsaustausch nicht vor. Ich als Hoher Repräsentant und als höchste Instanz für die Auslegung des Dayton-Friedensvertrages bin jedenfalls strikt dagegen.

Wo sehen Sie das Land in 20 Jahren?
INZKO: Es ist der Wunsch der Bevölkerung, in die EU und in die Nato aufgenommen zu werden. Dazu liegen Unterschriften von allen drei Volksgruppen vor. Bosnien-Herzegowina hat alle Ingredienzen, ein stabiler und prosperierender Staat zu werden, wo die Bürger ein normales Leben leben – wie bei un