In Belgrad ist am Mittwoch der bisherige Regierungschef Alexander Vucic zum Präsidenten Serbiens vereidigt worden. Obwohl das serbische Staatsoberhaupt kaum Kompetenzen hat, bleibt Vucic als Vorsitzender der stärksten Regierungspartei weiter die zentrale politische Figur Serbiens; ein Stabilitätsanker mit dem Hang zu autoritären Tendenzen als Schönheitsfehler, den es nicht zu vergessen gilt, der aber nicht nur am Balkan zu bemerken ist. Trotzdem ist der 47-jährige Vucic derzeit unverzichtbar, ist ein stabiles Serbien ein Lichtblick in einer instabilen Region mit vielen ungelösten politischen und wirtschaftlichen Problemen, in der die politischen Karten gleich in mehreren Ländern neu gemischt werden. So steht in Mazedonien ein schwieriger Machtwechsel von einer nationalistisch-konservativen Partei zu einer sozialdemokratischen Regierungskoalition bevor; die mazedonische Gesellschaft ist tief gespalten, das Verhältnis zur albanischen Volksgruppe ist trotz deren fortgesetzter Regierungsbeteiligung von tiefem Misstrauen und der Furcht vor zunehmend großalbanischen Tendenzen geprägt. Gewählt werden im Juni auch noch die Parlamente im Kosovo und in Albanien, zwei Staaten, die ebenfalls durch innenpolitische Spannungen geprägt sind, wobei im Falle des Kosovo noch die sehr schwierigen Verhandlungen mit Serbien über ein Normalisierung der Beziehungen hinzukommen. Sie werden auch durch den Umstand nicht erleichtert, dass fünf Staaten der EU die Unabhängigkeit des Kosovo noch immer nicht anerkannt haben, es somit auch in diesem Fall keine gemeinsame EU-Außenpolitik gibt.

Sieht man von Slowenien ab, sieht die Lage in allen anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien alles andere als befriedigend aus. Kroatien ist zwar Mitglied von EU und NATO, und nicht zuletzt wegen der Krisen in Nordafrika und der Türkei boomt der Tourismus; politisch ist das Land aber ebenfalls instabil und seine wirtschaftliche Erholung ist durch die Schuldenkrise des Lebensmittelkonzerns Agrokor mit einem großen Fragezeichen versehen. Hinzu kommen die Erblasten aus dem blutigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, und daher ist Kroatien auch kein Motor bei der Annäherung der übrigen Nachfolgestaaten an die EU. Die grundsätzliche EU-Strategie zur Befriedung der Region bestand aus Zuckerbrot und Peitsche; die Peitsche betraf schmerzliche Reformen sowie die Aussöhnung mit den Nachbarn; das Zuckerbrot bestand in finanzieller und technischer Hilfe sowie in der Zusage einer EU-Mitgliedschaft, sobald die Kriterien erfüllt sind. Obwohl diese Hilfe weiter geleistet wird, ist das Zuckerbrot mittlerweile schal geworden, weil ein EU-Beitritt in weite, unabsehbare Ferne gerückt ist – selbst für Staaten wie Montenegro und Serbien mit denen die EU bereits verhandelt. So begannen die Beitrittsgespräche zwischen Brüssel und Belgrad vor mehr als drei Jahren, doch nur acht von 33 Kapiteln sind eröffnet und nur zwei davon vorläufig geschlossen. Nicht nur fehlt jede Verhandlungsdynamik, sondern die internen Probleme der EU sind so groß, dass in den Staaten der Region die Zweifel stark sind, ob es je zu einer Mitgliedschaft kommen wird. In diesem Sinne äußerte sich auch Alexander Vucic bei einer Pressekonferenz in Belgrad vor zwei Tagen:

„Unser strategischer Weg führt in die EU; da gibt es keinen Zweifel; doch es ist den Menschen egal, wie viele Verhandlungskapitel wir eröffnet haben; das gilt selbst für jene, die direkt Geld aus der E bekommen. Das zeigt, dass wir nicht erfolgreich waren, unsere eigene Arbeit zu erklären, doch das gilt auch für die EU, die ihre Rolle nicht erfolgreich verdeutlicht hat. Daher bin ich für einen einheitlichen regionalen Wirtschaftsraum; denn natürlich wollen wir Serbien an die EU heranführen, doch die Mitgliedschaft hängt nicht nur von uns ab. Ich will, dass wir Wachstumsmotor sind, damit die Menschen besser leben; dann werden sie nicht zu viel daran denken, ob wir 2020, 2022 oder in welchem Jahr auch immer aufgenommen werden. Daher verspreche ich auch nichts Besonderes, sondern nur die Entwicklung Serbiens; ich glaube, dass das auch eine wachsende Zahl an Ländern in der Region versteht.“

Vucic ist für eine Zollunion zwischen Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, dem Kosovo und Albanien, um die wirtschaftlichen Chancen einer Region zu verbessern, die insgesamt gerade die Wirtschaftsleistung der Slowakei erreicht. Ob die wirtschaftliche Vernunft über die politischen Probleme der Vergangenheit obsiegen wird, ist fraglich. Sicher ist, dass all die genannten Staaten und ihre Probleme durch die EU und auch die USA zu wenige Aufmerksamkeit genießen. Sicher ist auch, dass EU und USA ihr politisches Monopol am Balkan verloren haben. China wird als Wirtschaftsfaktor immer stärker, während Russland mit den USA und der EU von Mazedonien über Serbien bis hin zu Bosnien und Herzegowina und Montenegro um politischen Einfluss kämpft. So gibt es starke Hinweise dafür, dass Russland den Beitritt Montenegros zur NATO, der am 5. Juni offiziell erfolgt, auch mit unlauteren Mitteln zu verhindern suchte. Die slawische Bevölkerung Montenegros ist in dieser Frage tief gespalten, die politische Stabilität Montenegros ist keineswegs garantiert. Im Falle Mazedoniens scheiterte der NATO-Beitritt 2008 am Veto Griechenlands wegen des Namensstreits. Ob es nach dem Machtwechsel in Mazedonien und wegen des wachsenden politischen Interesses von Moskau zu einer neuen Perspektive für eine NATO-Mitgliedschaft kommen wird, bleibt abzuwarten. Dagegen hat sich Serbien selbst für eine militärische Neutralität entschieden, weil die NATO wegen des Kosovo-Krieges weiter eine Art Feindbild darstellt. Doch auch die Zustimmung zur EU sinkt, obwohl nach Umfragen derzeit bei einem Referendum noch eine Mehrheit für den Beitritt stimmen würde. Gerade aber in Serbien nimmt die prorussische Stimmung klar zu. Das negative Paradebeispiel dafür, wie sehr der Balkan zum Schauplatz geopolitischer Konflikte geworden ist, ist Bosnien und Herzegowina. Dort kämpfen die EU, die USA, Russland, die Türkei sowie arabische Staaten um Macht und Einfluss. Klar erkennbar ist ein wachsender Einfluss des Islam auf die Bosniaken und auf die Albaner in Mazedonien, im Kosovo und in Albanien selbst. Hinzu kommen wachsende großalbanische Strömungen, auch gefördert durch die fehlende Perspektive eines EU-Beitritts, die im Falle des Kosovo hinter jedem politischen Horizont liegt.  

Der Balkan gleicht heute einem Bauwerk, das nur zur Hälfte fertig gestellt wurde, weil der Bauherr, die EU, nun andere Prioritäten hat. Gerade deshalb gilt es die Bereitschaft zu Aussöhnung und Zusammenarbeit zu fördern, die Alexander Vucic in seiner Antrittsrede als neuer Präsident Serbiens betont hat. Denn der Balkan ist und bleibt der weiche Unterleib Europas – das sollten weder die EU noch ihre Mitglieder vergessen. Dauerhafter Friede in Europa wird ohne dauerhafte Befriedung des Balkan kaum möglich sein.