Es begann im sagenhaften Prunk des Saals der Horatier und Curiatier im Konservatorenpalast in Rom - und führte in den Brüsseler Beton. Die Herren im dunklen Anzug, die am 25. März 1957 auf dem Kapitolshügel die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften zeichneten, hätten sich wohl kaum träumen lassen, was daraus in 60 Jahren wurde.

Mittlerweile ist es ein Gebilde mit 28 Staaten und einer halbe Milliarde Menschen, mit 44.000 Bediensteten und Zehntausenden Regeln, mit hochfliegenden Ambitionen auf Frieden, Freiheit und Wohlstand - und kleinteiligen Zuständigkeiten von der Glühbirne bis zum Buntstift.

Es ist ein Riese, mit dem die kleinen Leute fremdeln. Nur gut ein Drittel der Europäer hatte 2016 ein eindeutig positives Bild von der EU oder Vertrauen in die Institutionen. Und noch weniger Menschen verstehen, was EU-Kommission, Rat und Parlament in Brüssel, Straßburg, Luxemburg genau tun. Wer oder was also ist die EU? Und was soll aus ihr werden?

Parlamentskantine, Dienstagfrüh um neun.

Bas Eickhout weiß genau, dass er seine Zuhörer leicht mal abhängt. "Jetzt wird es kompliziert", sagt der Niederländer vorsorglich bei Croissants und Kaffee im Abgeordnetenrestaurant des gigantischen Parlamentskomplexes an der Brüsseler Rue Wiertz. Der Grünen-Abgeordnete plagt sich mit einer Reform des Europäischen Emissionshandels, der eigentlich helfen soll, das Klima zu retten, aber nie wirklich funktionierte. Es geht um CO2-Zertifikate und Zementwerke, um "carbon leakage" und den "cross sectoral correction factor". Eickhout wirkt beseelt.

Im EU-Parlament

Die Wortungetüme verpackt der 40-Jährige mit Charme, hinter den Brillengläsern blitzt der Schalk. Er dürfte unter den 500 Millionen Europäern einer von vielleicht 500 sein, die das nebulöse Handelssystem durchdringen. Doch schon im Parlament kommt er mit seinen grünen Ambitionen für optimalen Klimaschutz nicht durch. Die Mehrheit will eine weichere Reform. Und die 28 EU-Mitgliedsländer im Ministerrat eine noch windelweichere.

Jetzt hat jede Institution ihre Version - die EU-Kommission, das Parlament und der Rat: Zeit für den "Trilog". Das heißt, alle drei Parteien werden über Wochen oder Monate in Verhandlungsrunden dampfgegart, bis irgendeine Art von Kompromiss steht, der das Europa der 500 Millionen ein kleines bisschen besser macht. Vielleicht.

Es ist das normale demokratische Hin und Her, aber eben in Brüsseler Dimensionen: langatmig, undurchsichtig und in 24 Sprachen. Auch Erzeuropäer sind von dem zähen Prozedere entnervt. "Unser politisches System funktioniert nicht", sagt der Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt.

Generalüberholung der EU gefordert

Der ehemalige belgische Regierungschef predigt eine Generalüberholung der EU und hat dabei - für einen Mann des Parlaments nicht weiter verwunderlich - vor allem den Rat der Mitgliedsländer und die Kommission auf dem Kieker. Statt Rat will er eine zweite Parlamentskammer. Und die 28-köpfige Kommission sei einfach groß. Es gebe ja noch nicht mal genug Ressorts für je einen Kommissar pro Mitgliedsland, witzelt Verhofstadt. Zwölf reichten auch. Die Betroffenen sehen das naturgemäß anders.

Kommissionsgebäude Berlaymont, Dienstagnachmittag um drei.

Corina Cretu ist sicher nicht die Prominenteste der 28 Kommissare - sie scheint irgendwie sympathisch beglückt, dass Journalisten zu ihrem Hintergrundgespräch zur EU-Regionalpolitik gekommen sind. Dabei ist Cretu zuständig für ein Drittel des EU-Budgets, sie ist Herrin über die vielen Fonds, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken sollen. Kohäsion heißt das im Jargon. Zwischen 2014 und 2020 stellt die EU dafür 454 Milliarden Euro bereit.

Wie so viele in Brüssel verbringt die Rumänin mit der sonoren Stimme ihre Tage im dornigen Gestrüpp verquerer Abkürzungen, zwischen ESI, EFRE, ESF, EUSF und EFF. Aber auch sie zweifelt keinen Moment an der Wichtigkeit ihres Tuns: "Kohäsionspolitik alleine wird Europa nicht heilen, aber Europa wird nicht heil ohne Kohäsionspolitik", ist ihr Credo. Cretu ist stolz auf diese riesige Umverteilungsmaschine zwischen Gebern und Nehmern in der EU. Sie verweist auf das verdoppelte Bruttoinlandsprodukt der ostdeutschen Bundesländer seit 1991, auf knapp eine Million geschaffene Jobs in der EU in den sieben Jahren des Förderzeitraums 2007 bis 2013, auf die politische Mission: "Für mich gibt es keinen besseren Ausdruck der EU-Solidarität."

Gefälle in der Union ist groß

Doch trotz dieser Politik bleibt das wirtschaftliche Gefälle in der EU erschreckend groß. Die Luxemburger kommen nach Zahlen der deutschen Bundesregierung auf ein jährliches Bruttoinlandsprodukt von 81.000 Euro pro Kopf, während die Bulgaren gerade mal 5.500 Euro pro Kopf erwirtschaften. Seit den letzten großen EU-Erweiterungsrunden 2004 und 2007 sitzen hier einfach sehr ungleiche Kumpane in einem Boot, und nach der Finanz- und Eurokrise schaukelt die Jolle weiter gewaltig.

Bei aller von EU-Kritikern unterstellten Machtfülle - um das ganz große Rad zu drehen, fehlen Brüssel oft die Hebel. Selbst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der 2014 mit großen Ambitionen antrat, zeigt immer häufiger seinen Frust, dass die EU manchmal so ohnmächtig erscheint. Mit vielen im Parlament ist er sich einig, woran es liegt: Die Mitgliedsländer sind es, die den Laden aufhalten und in Brüssel erst Dinge mitbeschließen, von denen sie dann zuhause nichts mehr wissen wollen.

Ratsgebäude Justus Lipsius, Freitagnachmittag um zwei.

Es ist das Ende des Frühjahrsgipfels der EU-Staats- und Regierungschefs und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zieht Bilanz im Brüsseler Ratsgebäude, wie immer. Es waren zwei Tage im Krisenmodus. Die Polen haben den Aufstand gegen die übrigen 27 Länder geprobt. Der Brexit droht. Populisten in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland wollen das Ende der EU. Und das Thema des letzten Gipfeltages - das 60. Jubiläum der Römischen Verträge und die Zukunft der EU - entzweit die Gemeinschaft.

EU der verschiedenen Geschwindigkeiten

Merkels Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten wollen längst nicht alle, die Osteuropäer fürchten sogar einen neuen "Eisernen Vorhang", wie Juncker sagt - das ultimative Abgehängtsein jenseits aller Kohäsionsfonds. Bitterkeit brodelt. Beschwichtigung ist Merkels Antwort.

Konstruktiv habe man geredet, sagt die Kanzlerin. Ein Signal der Geschlossenheit sei geplant beim Sondergipfel in Rom am 25. März, ein Bekenntnis zu Binnenmarkt, Wettbewerbsfähigkeit, zum Friedenswerk der EU. Unbegründet auch die Aufregung um die verschiedenen Geschwindigkeiten: Das gebe es doch längst. Beim Euro oder beim Verzicht auf Grenzkontrollen machten ja auch nicht alle mit.

Von radikalen Veränderungen wie bei einem Verhofstadt, von einem Brüssel 2.0 ist bei Merkel nichts zu hören. Und zwar so gar nichts, dass ein Reporter der "Sunday Times" die Kanzlerin fragt, was sich in Europa denn überhaupt ändern werde nach den Feiern in Rom zum 60. Geburtstag? Merkels Antwort legt nahe: eigentlich nichts. Denn bei allen Problemen, das betont Merkel an diesem sonnigen Nachmittag, sei die EU doch ein gelungenes Modell, "wo wirtschaftliche Stärke und soziale Sicherheit in einem Maße verwirklicht werden, wie man das auf der Welt selten findet".