Das schmiedeeiserne Gitter der Seitentür schließt sich wieder, das Gedränge vor der Hofmauer der Kirche der „Muttergottesikone Besänftige meinen Kummer“ wird immer klaustrophobischer. „Vier Stunden warte ich schon“, sagt der Mann mit grauem Dreitagebart. Er hält zwei rote Nelken hoch, damit sie nicht zerdrückt werden. „Das Chaos haben sie absichtlich organisiert.“

Plötzlich fangen Leute an zu klatschen, „Nawalny!“, ruft der erste, andere stimmen ein. Handys werden in die Luft gestreckt, man sieht auf den Bildschirmen, wie ein polierter Holzsarg in den schwarzen Kleinbus mit der Aufschrift „Ritual“ geschoben wird. Nelken, Rosen, ganze Blumensträuße fliegen auf das Fahrzeug, Alexei Nawalny, der tote Führer der russischen Opposition, tritt seine letzte Autofahrt an. Von der Kirche in dem Moskauer Außenbezirk Marino, wo heute kein Kummer besänftigt wurde, zum gut eineinhalb Kilometer entfernten Borissower Friedhof.

Schikanen vor Begräbnis

Mit Nawalnys Beisetzung endete gestern für seine Familie und seine Anhänger ein zweiwöchiger Alptraum, der am 16. Februar mit der Schreckensnachricht von seinem überraschenden Tod in dem Straflager Nr. 3 der sibirischen Polarsiedlung Charp begonnen hatte. Er ging weiter mit einem Tauziehen um seinen Leichnam, den die Justizvollzugsbehörden neun Tage nicht an die Familie herausgeben wollten. Und mit dem Hickhack um ein würdiges Begräbnis. Tagelang wurde um einen Friedhof in Moskau gefeilscht, dann um ein Gebäude, wo seine Anhänger von ihm Abschied nehmen können. Nach russisch-orthodoxen Brauch soll jeder Trauernde noch einmal am offenen Sarg des Verstorbenen stehen können, zumindest für einen Augenblick. Und Nawalny war gläubiger Christ, „auch wenn mein Team mich deshalb auslacht“, wie er einmal sagte.

Aber Nawalny kommt zunächst nicht. Seine Pressesprecherin Kira Jarmusch schreibt, Nawalnyjs Eltern Ludmilla und Anatolij hätten ihren toten Sohn um 10 Uhr morgens abholen wollen, aber jemand hält den Leichnam noch drei Stunden im Leichenschauhaus zurück. Der schwarze „Ritual“-Kleinbus taucht erst gegen 14 Uhr vor der Kirche auf. Wo sich inzwischen mehrere tausend Menschen versammelt hatten, die ihn mit Applaus und dann mit Sprechchören feierten. Hunderte brachen dabei in Tränen aus, ihr „Nawalny! Nawalny!“ klang verzweifelt und flehend.

Katja flog 2800 Kilometer für Nawalny

Die Studentin Katja steht ganz vorne in der Schlange. Sie ist mit dem Flugzeug aus 2800 Kilometer entfernten Nowosibirsk gekommen, Olga, die neben ihr steht, aus Jekaterinburg, auch 1400 Kilometer östlich von Moskau. Sie sagen beide, sie hätten Nawalny nicht gekannt, aber sie hätten an ihn geglaubt. „Ein junger Mann, schön und stark, sie haben ihn gequält im Straflager, aber ich habe immer gehofft, er könnte das aushalten“, sagt Olga. „Warum haben sie ihn umgebracht? Er hatte Kinder, Eltern, Freunde“, Katjas Augen füllen sich mit Tränen. „Was hat er denn getan, außer dass er das Richtige gesagt hat: ,Hört auf zu töten, hört auf zu stehlen!’“ Auch sie fängt an zu schluchzen. 

Katja und Olga gehören zu den wenigen, die später durch die Metalldetektorrahmen vor der Kirche an Nawalnys Sarg gelangen, die große Masse wartet vergeblich auf Einlass. 

Etwa 400 Menschen hinter den jungen Frauen aus Nowosibirisk und Jekaterinburg steht eine Moskauer Kinderpsychologin, sie heißt auch Katja. Sie hat am Morgen ihre sechs Kinder alle gut in Schule und Kindergarten abgeliefert. Katja ist eine überzeugte und tollkühne Oppositionelle, sie trägt zwei Friedenssterne auf ihrem Rücksack, einen davon in den Farben des Regenbogens, ihren ukrainisch gelb-blauen Sticker hat sie heute aus Sicherheitsgründen in der Rucksacktasche verstaut. „Aber eigentlich“, lächelt sie, „betrachte ich mich als wandelnde Mahnwache.“ Katja wurde schon viermal zu Bußgeldern verurteilt, ihr droht bei der nächsten Festnahme Gefängnis. 

Für Katja und für tausende andere hier geht es nicht nur um Abschied von dem Demokraten Nawalny, sondern um sein politisches Erbe. „Heute haben wir die letzte Chance zu zeigen, dass es noch eine Opposition in Russland gibt“, sagt Katja.

Auch sie und ihre Freundinnen warten vier Stunden vergeblich vor der Muttergottesikonenkirche, jetzt laufen auch sie zum nahen Friedhof, in der Hoffnung, doch noch ein paar Blumen auf Alexej Nawalnys Grab werfen zu können. Aber vor dem Eingang drängeln sich tausende Trauernde, weil es nicht weitergeht. 

„Kein Krieg, kein Krieg“

Drinnen wird Nawalnys Sarg ins Grab hinabgelassen, Frank Sinatras „I did it my way“ erklingt und der Soundtrack des „Terminators“, Nawalnys Lieblingsfilm. Die Behörden wollten ein Begräbnis inkognito, im kleinsten Familienkreis, ohne Journalisten und vor allem ohne Anhänger. Das ist trotz aller Schikanen nicht gelungen. Unter den Trauernden ist von fünf- aber auch von fünfzehntausend Teilnehmern die Rede. Und Katja freut sich. „Das sind mehr Leute als bei allen Demos seit Februar 2022. Und die vorbeifahrenden Autos hupen uns zu.“ Es sei ein Sieg.

Jewgenij Roisman, liberaler Exbürgermeister von Jekaterinburg, und zusammen mit dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Boris Nadeschdin einer der wenigen Oppositionspolitiker hier, hat auch vergeblich in der Warteschlange vor der Kirche gestanden. „Nawalny wird einmal heiliggesprochen werden“, erklärt er später. „Als Märtyrer“. Im Gegensatz zu dem von der Russisch Orthodoxen Kirche ebenfalls als Märtyrer verehrten Zaren Nikolai II. habe Nawalny nicht das Geld des Volkes hinausgeworfen und niemanden in den Tod geschickt. Kremlsprecher Dmitrij Peskow aber antwortet auf die Frage, ob der Kreml Nawalnys politische Tätigkeit kommentieren könne. „Nein, das kann er nicht.“

Nawalnys Name gilt als extremistisch

Die Menge, in der Katja draußen vor dem Friedhof steht, fängt wieder an zu skandieren: „Kein Krieg! Kein Krieg!“ Gegen fünf Uhr Ortszeit beginnen Einsatzpolizisten, einen Teil der Menschen vom Friedhof abzudrängen, Dutzende werden landesweit festgenommen. Aber ich habe sechs Kinder, die ich noch alle abholen muss“, grinst die Kinderpsychologin Katja hoffnungsvoll, „mich dürfen sie einfach nicht festnehmen.“

Die Gerichte in Russland haben jedenfalls schon auf die Proteste reagiert. Die Justiz in einigen Regionen der Russischen Föderation haben den Namen „Nawalny“ als verbotene extremistische Symbolik klassifiziert und in den letzten Tagen auf dieser Grundlage Personen, die den Namen des getöteten Oppositionsführers auf Plakate schrieben, zu Verwaltungsstrafen verurteilt. Dies berichtete am Freitagabend die auf Politjustiz spezialisierte NGO „Erste Abteilung“, die von einer Anweisung aus Moskau für diese Lesart ausgeht.