Die uniformierten Wachmänner achten mit demonstrativer Strenge darauf, dass die Totenruhe nicht gestört wird. Kein lautes Wort ist erlaubt, kein Fotografieren und auch stehen bleiben darf man nicht. Die Besucher, die nach wie vor in großer Zahl kommen, müssen zügigen Schrittes an Russlands berühmtester Leiche vorbeidefilieren.

Seit seinem Tod, der sich am heutigen Sonntag zum hundertsten Mal jährt, liegt Wladimir Iljitsch Lenin einbalsamiert in seinem steinernen Mausoleum am Roten Platz. Etwa alle zwei Jahre wird die Leiche des Revolutionsführers in einer Wanne im russischen Forschungsinstitut für medizinische und aromahaltige Pflanzen in einem speziellen Gemisch gebadet, um das Gewebe des toten Körpers zu konservieren. Das genaue Rezept des Präparats wird vom Kreml wie ein Staatsgeheimnis gehütet, doch dass es funktioniert, ist offensichtlich. Lenins Leiche, die im Anzug unter schummrigem Licht in einem Glaskasten aufgebahrt ist, wirkt auch heute noch so, als sei der Begründer der Sowjetunion erst vor Kurzem gestorben.

Neben russischen Kommunisten, die den 100. Todestag heute mit Andachten und Kranzniederlegungen begehen, zieht das Lenin-Mausoleum vor allem in- und ausländische Touristen an. Einen Blick auf jenen Mann zu erhaschen, der nach der Oktoberevolution 1917 den ersten kommunistischen Staat der Erde gründete, gehört für viele Moskau-Besucher zum fixen Programmpunkt. „Lenin ist ein Symbol unserer Geschichte“, sagt eine 56-jährige Russin zur deutschen Presseagentur.

Putin sieht Lenin als Zerstörer

Zu Auseinandersetzung mit Lenin gehört allerdings auch schon seit Jahren die Diskussion darüber, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, den Revolutionsführer zu beerdigen. So spricht sich nicht nur die russisch-orthodoxe Kirche dafür aus, auch die Mehrheit der Russen ist laut Umfragen für einen solchen Schritt. Entsprechende Vorstöße in den Amtszeiten von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin verliefen jedoch allesamt im Sand.

Auch jener Mann, in dessen Händen die Entscheidung letztendlich liegt, pflegt ein ambivalentes Verhältnis zu Lenin. So hat sich Präsident Wladimir Putin in der Vergangenheit immer wieder gegen eine Beerdigung ausgesprochen, da viele Russen Lenin nach wie vor verehren und sein Lebenswerk - trotz der vielen Millionen Menschen, die in den Folgejahren durch den Roten Terror ums Leben kamen - positiv sehen. Gleichzeitig ist aber auch Putins Verachtung für Lenin offensichtlich. Der russische Präsident gibt dem einstigen Anführer der internationalen Arbeiterbewegung die Schuld am Zerfall des russischen Imperiums. Aus Sicht von Putin, der Revolutionen als größte Katastrophe betrachtet, ist Lenin der Zerstörer von Staatlichkeit, nicht deren Gründer oder Bewahrer.

Die Konsequenzen von Lenins Politik wirken für Putin dabei bis heute nach. So ist der russische Präsident überzeugt davon, dass es ohne Lenins Idee, die Sowjetunion als Union von mitspracheberechtigten Nationalitäten zu konstruieren, eine unabhängige Ukraine nie gegeben hätte. Nur durch diesen „schlimmen Fehler“ sei „historisches russischen Territorium“ an jenen Staat gefallen, gegen den Putin seit zwei Jahren einen revisionistischen Krieg führt.

Omnipräsent im ganzen Land

Dass der Kreml Lenin aus dem kollektiven Gedächtnis Russlands zu rücken versucht, ist aber auch trotz der offensichtlich Antipathie des bald fünfmaligen Präsident nur schwer vorstellbar. So ziert der Namen des mit nur 53 Jahren verstorbenen Revolutionsführers nicht nur die weltberühmte Metro der russischen Hauptstadt, sondern auch unzählige Straßen und Plätze im ganzen Land. Und im Zuge der auch von Putin befeuerten Sowjet-Nostalgie boomt in Russland auch wieder die Erinnerung an deren Begründer.

Entsprechend dürfte daher auch die Mumie Lenins noch viele weitere Jahre am Roten Platz aufgebahrt bleiben. Das Mausoleum sei als Touristenattraktion vergleichbar etwa mit dem Eiffelturm in Paris oder dem Kolosseum in Rom, schrieb das Portal news.ru unlängst. Und beschied der Erinnerungsstätte noch viele glanzvolle Jahre.