Seit sieben Wochen hat Yoni Asher kaum geschlafen. Oft saß er den ganzen Tag lang auf einem Stuhl in Tel Aviv mit einem Poster auf seinem Schoß. Darauf Fotos seiner Frau Doron (34) und den beiden Kindern Raz und Aviv, vier und zwei Jahre alt. Seine Familie war bei einem Besuch im Kibbutz Nir Oz im Süden Israels von Hamas-Terroristen entführt worden. „Ich will nur meine Familie zurück“, hatte er täglich gefleht. „Ich will, dass wir alle wieder glücklich sind.“ Dieser Moment ist für Yoni Asher nun gekommen. Seine Familie gehört zu den 13 Israelis, die am Freitagabend aus Gaza freigelassen wurden.

24 Geiseln kamen insgesamt in Jeeps des Roten Kreuzes über die Grenze zwischen Gaza und Ägypten und wurden dort von israelischen Sicherheitskräften in Empfang genommen. Neben den Israelis kamen Arbeiter frei, die in Israel beschäftigt waren, zehn aus Thailand und einer aus den Philippinen. Mehr als 200 Geiseln befinden sich noch in Gefangenschaft der Hamas.

Nie dagewesene Situation

Zuvor waren die Vorbereitungen in Israel auf Hochtouren gelaufen. Sechs Krankenhäuser organisierten gesonderte Abteilungen, in denen die Freigelassenen behandelt werden sollen. Professor Hagai Levine, Leiter des medizinischen Teams im Familienforum der Geiseln und Vermissten, spricht von „traumatischen Tagen, die hinter uns und noch vor uns liegen“. Derart viele Geiseln, darunter Kleinkinder, Alte und Kranke – das sei eine noch nie dagewesene Situation, so Levine, „und ist praktisch Neuland, auch für Experten“. Denn was geschah, sei beispiellos. „Ein Ereignis, bei dem ein neun Monate altes Baby, Kinder, Männer und Frauen, alte und kranke Menschen unter unmenschlichen Bedingungen in Tunneln ohne einen Sonnenstrahl oder Verbindung zur Außenwelt festgehalten werden, gab es noch nie.“

„Äußerst wichtig sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein holistischer Ansatz, der die Patienten und auch die Angehörigen, die ebenfalls traumatisiert sind, in den Mittelpunkt stellen.“ Es gebe so viele Tragödien und grauenvolle Schicksale, weiß Levine und nennt die dreijährige Avigail als Beispiel: „Ihre Eltern wurden vor ihren Augen ermordet, sie floh zu den Nachbarn und wurde dort mit der gesamten Familie von Hamas-Terroristen entführt.“ Das Sozialministerium stellt 60 Sozialarbeiter ab, die auf die Behandlung von Traumata bei Kindern spezialisiert sind.

Umarmungen nur mit Zustimmung

Die Soldaten der israelischen Armee waren vom Gesundheitsministerium angewiesen worden, wie sie sich bei dem Empfang der Geiseln zu verhalten haben. Unter anderem sollten sie jede Person mit Namen ansprechen, aber niemanden ohne Erlaubnis berühren. Die Soldaten könnten vorschlagen, ein Kind zu umarmen oder an der Hand zu halten, aber sollten es nicht ohne seine Zustimmung tun. Levine erklärt: „Die Menschen hatten keine Wahl, als sie in Gefangenschaft waren und durften nichts selbst entscheiden. Jetzt müssen sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Und das beginnt bei den kleinsten Dingen. Unsere Devise bei der Betreuung lautet: professionell, persönlich und geduldig“.

An erster Stelle aber stünde klar die medizinische Behandlung, denn mindestens ein Drittel der Gekidnappten leidet unter chronischen Krankheiten. Über das Forum der Familien haben die Mediziner Informationen über die Gesundheitsbedürfnisse jeder einzelnen Person zusammengestellt. Unter ihnen gibt es Menschen mit schwerem Asthma und Allergien, Diabetes, Krebs, eine 85-Jährige, die an Parkinson und Demenz leidet. „Außerdem wissen wir nicht, ob jemand verwundet ist, durch Schusswunden oder Amputationen“, gibt Professor Levine zu bedenken. „Wurden sie behandelt? Gibt es schwerwiegende Komplikationen? Wir hoffen auf das Beste aber erwarten das Schlimmste.“