Geduldig gibt der Mann im blauen Kittel Auskunft. Doch als der Reporter die Frage nach der Zahl der Toten stellt und wissen will, ob es 10.000 sein könnten, wird es für den Arzt aus Darna zu viel. "Mehr", sagt er noch, bevor ihn die Tränen übermannen – und er das Interview abbricht.

Wie viele Menschen gestorben sind, ist auch Tage nach der Flutkatastrophe im Osten Libyens unklar. Doch je mehr Zeit vergeht, umso klarer wird es, dass die Zahl noch einmal deutlich steigen wird. "Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern. Ausgehend von den zerstörten Bezirken in Darna können es 18.000 bis 20.000 Tote sein", sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem Fernsehsender Al-Arabija.

Doch auch für jene, die die gewaltige Sturzflut aus den nahen Bergen überlebt haben, ist die Lage prekär. Hilfsteams kommen kaum voran, weil Brücken und Zufahrtsstraßen einfach weggeschwemmt wurden, allein in Darna sollen laut der Internationalen Organisation für Migration 30.000 Menschen obdachlos geworden sein. "Es wird Monate, vielleicht Jahre dauern, bis die Menschen sich von diesem riesigen Ausmaß an Zerstörung erholt haben", sagte Yann Fridez, Leiter der Libyen-Delegation beim IKRK.

Viele der Opfer in Darna hätten aber womöglich vermieden werden können. Mit einem funktionierenden Warnsystem und einer besseren Koordination hätte die Bevölkerung wohl rechtzeitig evakuiert werden können, sagte Petteri Taalas von der Weltwetterorganisation. Doch nicht nur bei der Einrichtung eines Warnsystems hat es infolge des nun schon viele Jahre andauernden Bürgerkrieges offenbar schwere Versäumnisse gegeben. So wurden die zwei Dämme, die im Hinterland von Darna den enormen Wassermengen nicht standgehalten haben, laut Vizebürgermeister Ahmed Madroud schon seit 2002 nicht mehr gewartet.

"Jeder wird sich rechtfertigen müssen"

Immer lauter wird daher auch der Ruf, jene ausfindig zu machen, die für diese Versäumnisse verantwortlich sind. "Jeder, der hier einen Fehler gemacht hat oder nachlässig war, wird sich rechtfertigen müssen", sagte Staatschef Mohamed al-Menfi, der eine Untersuchung durch den Generalstaatsanwalt ankündigte.

Wichtiger als die von Menfi angekündigte Untersuchung, die im von der Gegenregierung beherrschten Osten kaum Ergebnisse bringen dürfte, wird aber wohl sein, ob sich der Zorn der Menschen auch auf der Straße entladen wird. "Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste", schreibt Libyen-Experte Jalel Harchaoui auf dem Kurznachrichtendienst X.