Der Ton zwischen Großbritannien und der Europäischen Union war zuletzt schon eher rau; die Briten scheinen sich wenig darum zu kümmern, was sie mit der EU für die Zeit nach dem Brexit eigentlich ausgehandelt haben, Brüssel war zuletzt wegen des Beinahe-Desasters um Artikel 16 im Nordirland-Protokoll in der Defensive. Nun eröffnete Ratspräsident Charles Michel einen neuen Schlagabtausch. In seinem regelmäßigen Newsletter ging er am Dienstag auf die Impfstoffbestellung ein und zeigte sich dort schockiert über den Vorwurf des „Impfnationalismus“ – wohl in Bezug auf das kürzlich in Italien ausgesprochene Exportverbot für 250.000 Dosen AstraZeneca nach Australien.

Die EU habe lediglich ein Kontrollsystem eingeführt, um zu verhindern, dass Impfstoffe, die in der EU und für die EU produziert (und von der Union auch schon vorfinanziert) wurden, dennoch ins Ausland gehen. Genau das ist ja der Vorwurf an Hersteller AstraZeneca: dass dieser Großbritannien zu 100 Prozent beliefert, auch mit Chargen aus EU-Produktion, die EU entgegen der Verträge aber nur zu einem reduzierten Ausmaß die Dosen erhält. AstraZeneca bleibt in seinen Stellungnahmen oft sehr schwammig, im Grunde aber lautet das Hauptargument, die Briten seien zuerst da gewesen und würden deshalb bevorzugt behandelt – was die EU aber in Abrede stellt.

Das Exportkontrollsystem der EU wird, das wurde heute Mittag bekannt, zunächst einmal bis Ende Juni verlängert. Pharmakonzerne, die mit der EU Lieferverträge geschlossen haben, müssen also weiterhin Genehmigungen beantragen, wenn sie bestimmte Drittstaaten beliefern wollen.

Michel kam jedenfalls auf Israel zu sprechen, das Impfstoffe aus europäischer Produktion einsetzt – um zu dokumentieren, dass aus der EU jederzeit Vakzine exportiert werden können, wenn alles rechtens ist. Und dann holte er weiter aus und schrieb: „Das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten haben hingegen eine regelrechte Sperre verhängt für den Export von Impfstoffen oder Impfstoff-Komponenten, die auf ihrem Gebiet produziert werden.“

Empörung an der Themse

In London zeigte man sich postwendend empört, selbst Premier Boris Johnson rückte aus: "Wir haben nicht einmal den Export einer einzigen Covid-19-Impfung blockiert", behauptete er. Großbritannien verurteile "Impf-Nationalismus in all seinen Formen". Alle Verweise auf ein Exportverbot oder Einschränkungen für Impfstoffe seien komplett falsch, hieß es zuvor schon von einem Regierungssprecher. Ein Brief von Außenminister Dominic Raab wurde an Charles Michel geschickt und der EU-Botschafter ins Außenministerium zitiert – dieser weilt derzeit aber nicht in London, eine Stellvertreterin musste den unangenehmen Termin übernehmen.

Und schon ging es weiter: Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU) griff den britischen Außenminister Raab scharf an. Statt die EU zu belehren solle Raab offenlegen, wie viel Impfstoff Großbritannien nach Europa und in andere Regionen exportiert habe. In den vergangenen Monaten seien acht Millionen Impfdosen von BioNTech/Pfizer nach Großbritannien gegangen. Weber: "Wie viele Impfungen haben Sie nach Europa gesendet?" Michels Wortwahl war vielleicht nicht präzise genug, sagte der Gesundheitsexperte und EU-Abgeordnete Peter Liese (CDU), aber politisch sei die Sache korrekt.

Exportbann für einzelne Wirkstoffe

Die Behauptungen der britischen Seite sind in der Tat – wieder einmal – sehr fragwürdig. Das Portal „Politico“ hat schon mehrmals darüber berichtet, dass Großbritannien sehr wohl Exportbeschränkungen für rund 100 pharmazeutische Komponenten erlassen hat, die man etwa in der Behandlung von Erkrankten verwendet. Den Berichten nach sagte Minister Michael Gove noch Ende Jänner, dass Impfstoffe, die in Großbritannien hergestellt wurden, vorerst nicht in die EU geliefert werden könnten – das eigene Impfprogramm habe Vorrang. Dazu kommt: Solange Hersteller wie eben AstraZeneca auch von sich aus nicht auf die Idee kommen, Vakzine exportieren zu wollen, stellt sich das Problem für die britische Regierung faktisch gar nicht. Und AstraZeneca, ein britisch-schwedisches Unternehmen, ist offensichtlich auf der Seite des Königreichs.

Mit anderen Worten: Selbst, wenn es kein ausgesprochenes Exportverbot gibt, kann es leicht sein, dass von der britischen Insel nichts über den Ärmelkanal kommt. Noch komplizierter wird die Lage, wenn die Verträge, die AstraZeneca mit der EU und mit Großbritannien geschlossen hat, einander widersprechende Passagen enthalten. Wenn also im britischen Vertrag steht, der Hersteller verpflichtet sich, zuerst die britischen Vorgaben zu erfüllen, bevor er anderen die Ware liefert – und im EU-Vertrag steht das Gleiche, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Hinweise dafür gibt es.

Heute legte Charles Michel in einem Politico-Interview noch einmal nach und präzisierte: "Wenn sie sagen, es gibt keinen Exportbann: Die Frage ist - wie viele Dosen genau haben sie bisher exportiert?" Das sei eine sehr einfache Frage, bis dato habe ich darauf keine Antwort erhalten." Es sei unfair, der EU einen Ausfuhrstopp vorzuwerfen, weil das nicht der Wahrheit entspreche. Laut Kommission wurden mit Stichtag 9. März bereits mehr als 34 Millionen Impfdosen aus der EU exportiert - davon 9,1 Millionen an Großbritannien.

Fraglich ist, ob das heute von der EMA genehmigte Produkt von Johnson&Johnson von der amerikanischen Ausfuhrsperre betroffen sein könnte. Der Impfstoff wird zwar in Europa hergestellt, muss dann aber zur Endverarbeitung in die USA gebracht und dann wieder zurückgeliefert werden. Peter Liese, Gesundheitsexperte der EVP im EU-Parlament, geht aber davon aus, dass der Exportbann wegen der europäischen Grundproduktion nicht angewendet wird.

Die Auseinandersetzungen verheißen jedenfalls nichts Gutes. Der Streit um die Impfdosen wird sich hoffentlich schon bald von alleine auflösen (wenn es nämlich wirklich genug davon auf dem Markt gibt), aber die Dissonanzen auf beiden Seiten des Ärmelkanals werden bleiben. Oder sogar lauter.