Wir stehen auch in Österreich erst am Anfang eines Wegs in der weltweiten Seuche. Ob und wie wir diese Prüfung bestehen, ist offen. Dabei sind wir in dieser Pandemie nur ein kleiner Teil des Ganzen.

Die Welt ist ein einziges, zusammenhängendes Krankenzimmer geworden: Folge der immer weiter gehenden und immer schneller werdenden Entwicklungen. Sie kennen keine Grenzen mehr. Kann Österreich, kann Europa überhaupt gesondert beurteilt werden?

Die Geschichte zeigt, dass die Menschheit immer wieder auf solche Herausforderungen Antworten zu suchen hatte. Die Seuchen blieben dabei aber stets mehr oder weniger regional: Ganze Länder und auch Teile von Kontinenten wurden erfasst, aber die ganze Welt?

Die Mittel zur Bewältigung von weltweit auftretenden Seuchen müssten wohl weltweit die gleichen sein. Wissenschaft und Wirtschaft arbeiten schon weltweit vernetzt. Die politischen und rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame Antwort bestehen aber nur ansatzweise: Vom Weltstaat sind wir noch weit entfernt. Eine Weltregierung gibt es nur ansatzweise: Die Vereinten Nationen (UNO) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestehen seit Mitte des 20. Jahrhunderts und sind ein wesentlicher Fortschritt. Aber sie haben nicht die Mittel zur zentralen Bekämpfung von Pandemien.

Andreas Khol, geboren am 14. Juli 1941 inBergen auf Rügen, Verfassungsrechtler,von 1983 bis 2006 für die ÖVP im Nationalrat, von 2002 bis 2006 Erster Nationalratspräsident.Bis zu seiner Kandidatur bei der Bundespräsidentenwahl 2016 war Khol Obmann des ÖVP-Seniorenbundes.
Andreas Khol, geboren am 14. Juli 1941 inBergen auf Rügen, Verfassungsrechtler,von 1983 bis 2006 für die ÖVP im Nationalrat, von 2002 bis 2006 Erster Nationalratspräsident.Bis zu seiner Kandidatur bei der Bundespräsidentenwahl 2016 war Khol Obmann des ÖVP-Seniorenbundes. © APA/HANS KLAUS TECHT

Gleiches muss man auch von Europa sagen: Der Europarat ist derzeit die einzige nahezu alle Staaten Europas erfassende Organisation. Die Seuchenbekämpfung ist nicht ihre Aufgabe. Die Europäische Union erfasst nur einen Teil des Kontinents. Die jüngste Erfahrung bestätigt, was der Kundige weiß: Auch sie ist nicht der zentrale Ort der Krisenbekämpfung.

Fromme Wünsche und großspurige Erklärungen helfen nicht: Die EU hat weder die Aufgabe der Seuchenbekämpfung noch die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe übertragen bekommen. Ihr deswegen Vorwürfe zu machen, ist töricht.

Die EU als Sündenbock

Kein Organ der EU ist rechtlich und politisch ermächtigt, die zur Bekämpfung der weltweiten Viruserkrankung in Europa notwendigen Maßnahmen zu setzen. Es gibt auch keine rechtlich bindende Pflicht zur wechselseitigen Hilfe: weder weltweit noch in der Union. Ob und wie ein Mitglied einem anderen hilft, bestimmt jedes Mitglied selbst. Die europäische Solidarität ist zwar viel beschworen, aber nicht mehr als ein Ideal. Für viele ist die EU nur ein willkommener Sündenbock, ein Mittel der Schuldverschiebung.

Das ist traurige Wirklichkeit und muss zu einer unabweisbaren Erkenntnis führen: Die EU braucht eine Notstandsverfassung zur Pandemiebekämpfung. Sie steckt derzeit auf dem halben Weg zu einer besonderen Art von Bundesstaat. Ihre Volkswirtschaften sind aber schon heute dermaßen eng ineinander verflochten, dass es viele Aufgaben gibt, die schon heute nur europaweit wirksam besorgt werden können: Grundrechtseingriffe, Krisenbevorratung, Notstandsproduktion, Forschung, Verkehrsreglungen, wechselseitige Hilfe und viele mehr.

Zuständig: Die Nationalstaaten

Für vieles, ja fast alles sind aber heute noch die Mitgliedstaaten, also die Nationalstaaten zuständig. Vor allem die im modernen Staat zum Staatszweck gewordene Daseinsvorsorge nimmt fast ausschließlich der Staat wahr.

Die Krise hat gezeigt, dass die Weisheit der Staatslehre zutrifft: Souverän ist, wer über und im Ausnahmezustand entscheidet. Das sind heute in Europa und in der Welt immer noch die Nationalstaaten; in Demokratien entscheiden gewählte Regierungen und Parlamente im Zusammenwirken.

Maßstab für die weltweite Aufgabenverteilung sollte aber das Subsidiaritätsprinzip sein: Was die kleinere Einheit zunächst betrifft, was sie mit eigenen Kräften bewältigen kann, soll von ihr auch besorgt werden. Die übergeordnete sollte ihr dabei helfen. Was die untergeordnete Einheit auch mithilfe von oben nicht schafft, soll und muss die nächsthöhere übernehmen.

Ja, muss: Das Subsidiaritätsprinzip wirkt nicht nur dezentralisierend, sondern auch zentralisierend, wenn es die Probleme erfordern. Im Verhältnis von Mitgliedstaat zu EU ist vieles falsch geregelt, und auch im Verhältnis zur UNO, der Weltebene, ist das meiste offen. Auch hier sind nach der Krise Neuordnungen unabweisbar.

Notfallregelung hat geklappt

Wir können hier nur ansatzweise versuchen, den ureigenen Verantwortungsbereich zu überprüfen und unseren Weg zu hinterfragen. Haben sich Aufgabenteilung und Aufgabenwahrnehmung in Österreich bewährt? Sieht man von vermutlich wahlkampfbedingten bizarren Einzelheiten ab (Gärten offen, Gärten zu), ja. Wenngleich die österreichische Rechtsordnung weltweit auftretende, großflächige Seuchen gar nicht kennt und daher bisher nicht besonders regelt.

Der den Regelungen des Epidemiegesetzes zugrunde gelegte Seuchenfall ist regional, örtlich begrenzt und vorwiegend auf Tiererkrankungen gerichtet, etwa die Schweinepest: einige Bezirke erfasst, Dutzende Betriebe geschlossen. Aber gleich das ganze Land, den ganzen Erdteil, die ganze Erde und vor allem Menschen als Opfer?

Hier tun neue Regelungen not. Wir haben sie in der Eile schnell geschaffen und behelfen uns mit dem allgemeinen Katastrophenschutz. Unsere Verfassung verteilt die Aufgaben klar: Der Kanzler ist österreichweit, jeder Landeshauptmann für sein Land, die Bezirksverwaltungsbehörde für den Bezirk und der Bürgermeister für seine Gemeinde zuständig. Sie haben sie alle wahrgenommen – und es hat österreichweit geklappt.

Ischgl: Nur Einzelfälle

Dass in Ischgl und anderen Ansteckungsherden retrospektiv früher und anders hätte gehandelt werden müssen, erscheint plausibel. Klarheit werden die Untersuchungen zeigen. Schuldhafte Rechtsverletzungen halte ich für unwahrscheinlich. Sie wären Einzelfälle. Klagen werden kaum erfolgreich sein.

Das Krisenmanagement, das die Verfassung regelt, hat sich augenscheinlich bewährt. Der Bundespräsident war wenig gefordert, hat aber das Seine vorbildlich geleistet. Die rechtliche Hauptlast tragen die Fachminister und das Parlament, die politische die Chefs der Regierungsparteien. Die Rechtsordnung musste im Schnellzugstempo ergänzt, verändert, angepasst werden. Minister, ihre Beamtenapparate, Kanzler und Vizekanzler – sie alle ließen sich vielfältig beraten. Experten wurden zuhauf herangezogen und eingebunden.

Experten und Politiker

So wurden offensichtlich auf technischer Ebene die Sachverhalte ausgiebig und kontroversiell geklärt. Die Entscheidungen, in welchem Ausmaß und wie schnell die von der Fachwelt vorgeschlagenen Regelungen dem Parlament zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt würden, mussten die Politiker treffen: Nur sie konnten die Beschlussvoraussetzungen beurteilen und sicherstellen: Gibt es eine Zweidrittelmehrheit, stimmen die Länder zu?

Nur die Politiker können beurteilen, was der Bevölkerung zugemutet werden konnte, wie ein nationaler Konsens erzielt werden kann. Der Vielschichtigkeit der Expertenberatung entsprach die politische Entscheidungsfindung: Weit über den Buchstaben der Verfassung hinaus wurden die Regierungsparteien im Parlament ebenso frühzeitig eingebunden wie die Opposition. Alle Landeshauptleute, die Sozialpartner in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Im Parlament machten alle Parteien die Eilgesetzgebung möglich, und auch die Vertretung der Bundesländer zog mit.

Biegsame Verfassung

Verfassung und Geschäftsordnung des Parlaments waren biegsam genug, um ein schnelles und verfassungsgetreues Vorgehen zu ermöglichen. Auch die handelnden Personen waren sich ihrer Verantwortung uneingeschränkt bewusst. Das war eine Gunst der Stunde! Ein Gedankenexperiment: Was wäre bei gleicher Rechtslage anders gelaufen, wären noch die Regierungen Kern/Mitterlehner oder Kurz/Strache zur Entscheidung berufen gewesen?

Gleichklang und Unterstützung

Die Einmütigkeit in Politik, Regierung, Parlament, Ländern, Wissenschaft, Sozial- und Schulpartnern erbrachte einen Gleichklang, der sich in der starken Unterstützung der Entscheidungen durch die Betroffenen spiegelte. Dieser Gleichklang, diese Unterstützung machten erst aus den papierenen Gesetzestexten gestaltende Wirklichkeit, wurden damit wirksam und erzielten die berechneten Wirkungen.

Nicht ausreichend in die Entscheidungsvorbereitung konnten offenbar manche Vertreter der sich als vierte Staatsgewalt fühlenden Medien eingebunden werden. So mancher selbst ernannte Arbiter Elegantiarum, also Schiedsrichter über das Richtige in der Innenpolitik, rauschte daher im Blätterwald, hackte ins politische Fleisch, turnte auf den Expertengutachten herum und kritisierte die Vorgangsweise unter vielen Gesichtspunkten.

Vor allem die eine Frage beschäftigte viele: Gesundheit oder Wirtschaft? Schüttet die Regierung das Kind nicht mit dem Bade aus? Bewirkt die vorübergehende Schließung der Wirtschaft „in the long run“ nicht mehr Tote als die Krankheit selbst? Nie hatte Henry Kissinger mehr recht, der einem ähnlichen Einwand mit der Antwort begegnete: „In the long run, my friend, we are all dead!“

Wahrheit und Ideologie

So manche anscheinend unumstößliche Wahrheit wurde als Ideologie entlarvt: so der politische Kampf des Rechnungshofs gegen „verschwenderisch zu viele Intensivbetten in Österreichs Krankenhäusern“ – Ähnliches gilt für die Maskenpflicht! Keine schöneren Beispiele für die alte römische Weisheit „Veritas filia temporis“, die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit.

Eine andere altrömische Weisheit wurde unter Beweis gestellt: Quot capita, tot sententiae – wie viele Köpfe, ebenso viele Meinungen – oder im österreichischen Kontext: Für fast jede Meinung gibt es einen Experten.

Der Politiker muss sie alle kennen, abwägen und dann entscheiden. Wer dann von juristischen Spitzfindigkeiten spricht, wird gescholten: Aber wusste nicht schon Cicero: Summum ius, summa iniuria? Also Recht kann zum Unrecht werden, wenn es übergenau angewandt wird!

Alles in allem: Wir stehen erst am Anfang, aber für die ersten Schritte des Weges war unsere Bundesverfassung ausreichende Grundlage, und das Krisenmanagement hat sich bewährt.

Nicht nur innerösterreichisch muss einiges neu geregelt und nachdiskutiert, Erfahrungen in der Pandemie berücksichtigt werden – noch viel größerer Handlungsbedarf besteht in Gesamteuropa und der Weltgemeinschaft.