Die Geschichte des Anton Zeilinger handelt von intellektueller Kompetenz, von Genauigkeit und vom langen Atem. Aber sie adelt auch die Grenzüberschreitung, die Neugier, das Staunen. Das Sich-nicht-Abfinden mit beglaubigten Gewissheiten. Insofern hat sie ein paar unösterreichische Züge, und es bleibt zu hoffen, dass sich in die allgemeine Nobelpreis-Euphorie ein Quantum Selbstreflexion verirrt.
Als Physiker könne er mit der Existenz des Zufalls "gut leben", sagte Zeilinger vor Jahren im Interview. Das mag überraschen. Gilt doch der Zufall gerade in der Naturwissenschaft nicht eben als eine valide Messgröße.

Andererseits kann man den Werdegang des Forschers als eine Perlenkette von Zufällen lesen. Schon sein Vater verband Unvereinbares, er leitete eine Molkerei, war aber auch Professor für Mikrobiologie, später Rektor der Universität für Bodenkultur. 1955 zog die Familie vom bäuerlichen Ried im Innkreis nach Wien. Da war Anton, der einst die Puppen seiner Schwester zerlegte, um das Innere zu erforschen, zehn Jahre alt. Im Gymnasium in der Fichtnergasse in Hietzing traf er auf einen Physiklehrer, der die Schüler für das schwere Fach begeisterte.
Als der Aufgeweckte 1963 sein Physikstudium an der Uni Wien begann, wollte er außerhalb des Mainstreams arbeiten. Das Studium erfüllte damals noch das Freiheitsversprechen der Wissenschaft, Pflichtlehrveranstaltungen gab es kaum. "Ich habe in meinem ganzen Studium keine einzige Stunde eine Vorlesung zur Quantenphysik besucht", erzählt der Forscher in seinem 2003 erschienenen Buch "Einsteins Schleier". Überliefert ist stattdessen, dass er häufig im Kaffeehaus saß und Schach spielte.

Doch der Faszination des Faches konnte sich der junge Oberösterreicher nicht mehr entziehen. Aus Büchern sog er das Wissen über Quantenmechanik auf und stieß dabei auf "unglaublich schöne Mathematik", wie er sagt.

Es brauche mehr "hochriskante Ideen"

Sein ganzes weiteres Forscherleben habe er dann damit zugebracht, die "erstaunlichen Vorhersagen" der Quantenphysik experimentell zu prüfen. Irgendeinem Zweck diene seine Arbeit nicht, betonte er häufig. Anwendungen des Wissens seien allenfalls "willkommene Nebenprodukte".
Dass heute von Forschern verlangt wird, Jahrespläne zu schreiben und erwartbare Resultate zu nennen, hält Zeilinger für falsch: Wenn sie jahrelang das vorher Geplante machten, dann sei das schlechte Wissenschaft. Denn es sollten ihnen längst neue Ideen gekommen sein. "Man müsste mehr Wert darauf legen, dass hochriskante Ideen gefördert werden", sagte er einmal zur "Furche".

Zu den Spannungsbögen seines Lebens zählt der eigentümliche Gegensatz zwischen der Verve seines Vermittlungsdrangs und der prinzipiellen Unzugänglichkeit des sperrigen Fachgebiets. Stets wollte der Physiker das Feuer seiner Leidenschaft weitertragen. Daraus entsprangen Einrichtungen wie die "Internationale Akademie Traunkirchen", die seit 2009 Technik, Mathematik und Naturwissenschaften praxisnah an Schüler vermittelt. Oder Zeilingers Gastspiel auf der Kunstschau "documenta" in Kassel.

Professor ohne Berührungsangst

Zunächst aber wurde er als Professor ohne Berührungsangst bekannt, der auch durch aktionistische Forschung auffiel. Dass man seine Experimente zur Quantenteleportation als "Beamen" verlautbarte, hat er nur halbherzig bekämpft. "Mister Beam" erklärte zwar hundertfach, ihm sei nicht die Übertragung von Materie gelungen, sondern jene von Information. Doch die gleichsam Gutenberg’sche Unschärferelation der Medien nahm er in Kauf, weil Fach und Forschung dadurch populär wurden.

Als 2012 der Dalai Lama nach Wien kam und den Professor zwei Tage lang ins Labor begleitete, entsponnen sich heiße Debatten. Der Geistliche wollte "reinen Zufall" nicht zugestehen. Es gebe für alles verborgene Gründe. Zeilinger widersprach. "Die Suche nach den verborgenen Parametern ist zusammengebrochen. Es gibt sie nicht", bilanzierte er nach der Abreise des Gastes.

Kontroversen wie diese sind sein Elixier. Den "Abschied vom Gewohnten" proklamiert er in einem seiner populärwissenschaftlichen Bücher, und das könnte man ihm als Lebensmotto zuordnen. Sein Alles-in-Frage-Stellen prädestiniert ihn für das phänomenale Dickicht der Quantenphysik, deren gleichsam natürliche Bestimmung es ist, Wissenschaft und Alltagsleben zu irritieren.

Lernen von Max Planck

Als Geburtsstunde des Faches nennt der Professor mit dem wirren Haar gerne den 14. Dezember 1900: In Berlin trug Max Planck die Formel zur Erklärung der Hohlraumstrahlung vor und präsentierte die revolutionäre These, dass Licht keine Welle sei, sondern aus winzigen, unteilbaren Stücken (eben den Quanten) bestehe. Ins damalige physikalische Weltbild passte das nicht. Doch anstelle von Widerspruch erntete Planck bloß Gleichgültigkeit. Fünf Jahre passierte nichts. Bis Albert Einstein 1905 mittels der Quantenhypothese von Planck den photoelektrischen Effekt erklärte. Dafür (und nicht etwa für die Relativitätstheorie) erhielt er 1922 den Nobelpreis.

Genau 100 Jahre später fällt diese Ehre Zeilinger zu. Es dauerte nämlich bis in die 1970er-Jahre, bis die Physik technisch dazu in der Lage war, die Erkenntnisse aus der Quantenphysik experimentell zu prüfen. Zeilinger erwischte – wieder zufällig – als Jungforscher eine Aufbruchszeit seines Faches, das heute mit dem Quantencomputer eine mögliche Schlüsseltechnologie der Zukunft in Händen hält.

"Kein Moment ohne Gott"

Er fände es "furchtbar", wenn Wissenschaft alles erklären könnte, sagte er einmal zur "Zeit". Sein Bekenntnis, es gebe in seinem Leben "keinen Moment ohne Gott", wurde mit Unverständnis quittiert. Doch wahrscheinlich hat er im Labor zu viel Atemberaubendes erlebt, um einen Widerspruch zwischen Glauben und Wissen zu sehen.

Mit der Politik tat er sich zeitlebens schwerer. Vergeblich drängte Zeilinger darauf, die EU möge einen Quantenkommunkationssatelliten bauen. Der wurde dann 2016 von den Chinesen ins All geschossen. Zeilinger blieb die Rolle, mit seinem chinesischen Schüler Pan Jian-Wei 2019 das weltweit erste Quantentelefonat zu führen. Berührungsangst ist ihm fremd, vielmehr sei die Wissenschaft in autoritären Systemen oft die einzige Brücke nach außen. Den Chinesen habe er stets geraten, junge Nachwuchsforscher frei denken zu lassen.

Zeilinger ist übrigens in Russland, in Weißrussland und in der Ukraine jeweils Mitglied der nationalen Akademie der Wissenschaften. Autoritäten hat er sich nie gebeugt. An der Montanuniversität Leoben, auf der 71. Jahrestagung der Physikalischen Gesellschaft, sprach er Ende September nicht über Physik, sondern führte einen von ihm initiierten Dokumentarfilm über vertriebene jüdische Wissenschaftler vor: "The class of '38 – Exile and Excellence". Das war exakt eine Woche vor der Nobelpreis-Verkündung. Wieder so ein Zufall.