Alles landet bei Kurz. Hier ist das aber weniger Chefsache als pure Kommunikationsstrategie. Die Herren von Ischgl geben der Krise das Gesicht des Bürgermeisters. Also reden sie nicht und gibt Werner Kurz seit einer Woche Interviews im Halbstundentakt. Flankiert von der PR-Chefin des Tourismusverbands Paznaun und dem externen Kommunikationsberater aus Innsbruck. Kurz sagt: „Ich bedaure sehr, dass sich hier Gäste infiziert haben. Aber nicht nur sie, auch Mitarbeiter und die einheimische Bevölkerung.“ Der Stehsatz sitzt – eine Woche nach Ende der fast 40-tägigen Quarantäne.

Das globale Medieninteresse am alpinen Corona-Hotspot flaut langsam ab. Die Bauarbeiten beginnen an allen Ecken und Enden des Dorfes mit den 1600 Einwohnern in 1400 Meter Seehöhe. 60 Millionen Euro stecken die Bergbahnen allein in die Silvretta-Therme, die bis zum Saisonstart im Dezember 2022 fertig sein soll. Denn „wir forcieren Alternativen zum Après Ski“, verweist der Bürgermeister auf die neue Linie zu „mehr Qualität. Weg vom Ballermann-Tourismus. Da wollen wir hin“.

300 Meter entfernt vom Gemeindeamt steht der neue Winter-Inbegriff dieser Ballermann-Unkultur. Betreiber Bernhard Zangerl ist der Einzige, der die öffentliche Rede-Reduktion auf Kurz konsequent durchbricht: „Wir haben in der Familie beschlossen, alles offen aufzuklären. Denn neben Ischgl gibt es als zweiten Beschuldigten unser ,Kitzloch‘“, erzählt der 25-Jährige und wirkt dabei so telegen wie unbekümmert. Inmitten von hochgestellten Barhockern im Vollholz-Rustikal-Ambiente, von wo das Coronavirus explosionsartig auf Weiterreise ging. „Wir werden uns nicht für etwas entschuldigen, für das wir selbst nichts können. Aber es tut uns natürlich leid, dass sich Leute bei uns angesteckt haben. Und dass wir nach dem ersten Fall nicht konsequenter gehandelt haben. Aber man hat eben stets auf die Einschätzungen und Vorgaben der Experten und Behörden vertraut“, bringt auch er einen Standardsatz unter. Um dann zu schmunzeln, wie es jetzt hier ist: „Steriler geht es nicht mehr.“ Er war „positiv“ und hat es überstanden – wie auch, trotz Vorerkrankungen, der 83-jährige Großvater.

Bernhard Zangerl entspricht dabei exakt dem, was Werner Kurz sich wünscht: „Wir wollen zeigen, wie Ischgl ist. Wunderbare Landschaft, exzellentes Skigebiet, hervorragende Gastronomie und – immens nette Leute.“ Doch nicht nur der plötzliche Kälteeinbruch sorgt für Risse in dieser Image-Fassade. Kaum jemand lässt sich bei 7 Grad auf den Straßen blicken. Nur Saskia Dekkers und Pieter Nijdeken vom niederländischen Fernsehen bauen ihre Kamera am anderen Ufer der Trisanna auf. Sie wollen mit dem Hintergrund „Kitzloch“ drehen. Doch die Hausherrin vertreibt sie unwirsch vom leeren Parkplatz: „Was ihr in den Medien bringt, ist alles nicht wahr. Wir haben genug von euch.“ Das umgehende Interview-Angebot der holländischen Journalistin lehnt sie brüsk ab. Das war nicht immer so. Ein bisschen Recherche ergibt, dass Sabine Wolf, die Mutter der Miss Vorarlberg 2019, am ersten Quarantäne-Wochenende noch sehr entspannt mit den „VN“ gesprochen hatte. Doch der internationale Medienkonsum funktioniert trotz Isolation – und hinterlässt tiefe Abneigung.

"Die Haudrauf-Mentalität muss auch hinterfragt werden"

Das versteht auch einer der kritischsten Köpfe des Landes. Der Blogger Markus Wilhelm antwortet auf die Frage nach Fehlern: „Der Rudeljournalismus hat längst ein für alle Mal festgehalten, dass der ,Kitzloch‘-Betreiber an allem schuld ist. Von der Mitverantwortung der Gäste, die zum Beispiel noch am 7. März ihren Urlaub in Tirol und Südtirol angetreten haben, ist kaum die Rede. Die Haudrauf- und Scheißdiwas-Mentalität – Hauptsache Fun – gerade des Publikums, wie es Ischgl, St. Anton oder Sölden haben, muss auch hinterfragt werden.“ Wilhelm hat Skandale zuhauf aufgedeckt und ist für das offizielle Tirol vor allem deshalb ein Gottseibeiuns, weil er weiß, wovon er schreibt. Er lebt als Zimmervermieter und Kleinbauer im Ötztal – zehn Gehminuten entfernt vom Gemeindeamt Sölden.

Dort, in einem Haus mit Arzt, Apotheke, Friseur und Skischule, residiert einer, der jahrzehntelang als Landeshauptmann-Reserve gehandelt wurde: Ernst Schöpf war mit 25 der jüngste Bürgermeister Österreichs. 34 Jahre später fällt in seinem Büro vor allem die Samurai-Rüstung aus der Partnerstadt auf. Sölden führt mit 2,1 Millionen vor Ischgl (1,4 Mio.) die Rangliste der Winternächtigungen an. Plafond erreicht? „Im Winter sind wir ganz gut ausgelastet. Unsere Ortsteile Ober- und Hochgurgl sind nach diesem Maßstab der Toport im gesamten Alpenbogen“, tiefstapelt Schöpf. Auch Sölden war 40 Tage in Quarantäne. Der von ihm dominierte Ötztal Tourismus hat mit 32 Millionen Euro um ein Drittel mehr Jahresbudget als die Tirol Werbung. „Mit Ausnahme der Lehrer und Mitarbeiter im Pflegeheim hat hier jeder Arbeitsplatz mit Tourismus zu tun“, sagt der Bürgermeister, der den bisherigen Coronaschaden auf eine Formel verkürzt: „Es werden 500.000 Nächtigungen fehlen.“

Um das Paznaun heute zu verstehen, musst du davor ins Ötztal gehen: „Sölden hatte bereits einen nennenswerten Fremdenverkehr in den 1930er-Jahren und konnte daran in den 1950ern anknüpfen, Ischgl ist später gestartet, dafür war der Aufstieg rasanter. Es hat viel mehr Geld in die Marke investiert und ein mondäneres Image“, erklärt Wilhelm. Schöpf glaubt deshalb „nicht, dass die sich wahnsinnig neu erfinden. Und ich gehe davon aus, dass es weiterhin Après Ski geben wird. Auch in Sölden. So what? Irgendwann kommt wieder die Tagesordnung.“ Die Chronik verzeichnet da wie dort viel Katastrophenbewältigung. Vom Hochwasser 1987 mit 13 Toten im Ötztal über die Lawinen 1999 von Galtür und Valzur mit 38 Opfern bis zum Hubschrauber- und Seilbahnunglück 2005 in Sölden mit neun Toten. „Doch wenn der Tourismus aufhört, ist hier nichts mehr“, fürchtet der Bürgermeister.

Sie sind Kummer gewohnt in diesen V-Tälern, wo sich eingekerbt zwischen 3000ern alle Gegensätze verschärfen. Ohne die Heerscharen von Gästen wären es „Abwanderungsgebiete wie im Piemont oder zum Teil auch in Frankreich“, sagt Schöpf. Heute liegt der Quadratmeterpreis für Wohnungen in diesen hinteren Tallagen laut Spezialist Immowelt im Schnitt bei 5000 bis 6000 Euro – nach oben offen. Nur im landschaftlich wesentlich offeneren Kitzbühel bzw. Kirchberg ist er in Tirol noch höher. Droht auch diesem Markt der Zusammenbruch? Kurz hat diese Sorge nicht, ahnt aber: „Das kommt darauf an, wie sehr hier Existenzangst entsteht. Ob es nicht auch zu einer Dorfflucht kommt.“

Vorerst regiert die Wortflucht. Beim M-Preis in Galtür ist es ähnlich wie vor dem Billa in Ischgl. „Ich sag nichts“, wendet sich eine sofort ab. „Das wird alles total übertrieben“, antwortet ein anderer – aber mehr nicht. Vor allem nicht seinen Namen. Nur Bernhard Zangerl wirkt entspannt. Der Ischgler „Kuhstall“ ist größer als das „Kitzloch“ und gehört auch seiner Familie. Sie betreibt vor allem das Fünf-Sterne-Hotel Silvretta und beliefert ihre Betriebe aus der eigenen Landwirtschaft mit Rind-, Schaf- und Schweinefleisch sowie Käse. „Nach dem ,Kuhstall‘ hat noch keiner gefragt“, beschreibt er seinen unfreiwilligen Schnellsiedekurs in Medienkunde. Er sieht sogar positive Marketingeffekte: „Das ,Kitzloch‘ umbenennen? Das ist für uns kein Thema.“ Die Familie investiert weiter: Es wird gebaut bei Hotel und Hof. Das Ziel der Zangerls ist der Ganzjahresbetrieb, die bessere Auslastung im Sommer. Noch steht es in Ischgl 92:8 für den Winter, erklärt der Sohn, ein Absolvent der Zillertaler Tourismusschule. Bürgermeister Kurz will unterdessen auf einen anderen Anteil „im einstelligen Prozentbereich“ künftig ganz verzichten: „Weg von den Bustagesreisen, die nur zum Feiern kommen. Das kann ich jetzt schon sagen. Was wir statt dem noch dazu brauchen, das diskutieren wir gerade.“

Ischgl bietet viele Spitzenleistungen, ein bestehendes Image ist jedoch nur schwer veränderbar

Hubert Siller, der Leiter des Departments für Tourismus- & Freizeitwirtschaft am Management Center Innsbruck (MCI), mahnt dabei vor allem zu Geduld: „Der Fokus der Markenkommunikation muss auf die zentrale Problemlösung für den Gast und gleichzeitig auf eine Spitzenleistung der Destination gelegt werden. Ischgl bietet viele Spitzenleistungen, ein bestehendes Image ist jedoch nur schwer veränderbar und braucht einige Zeit.“ Zum Ganzjahresbetrieb sagt er: „Ischgl ist kein Wanderparadies, aber Themen wie Bike und hochwertige Kulinarik könnten im Sommer zu Ischgl passen.“ Und so wie in der aktuellen Negativ-Berichterstattung der Ort zu Unrecht in einem Atemzug mit dem gesamten Land genannt wird, sieht Siller auch Auswirkungen einer allfälligen Weiterentwicklung: „Ischgl ist zweifellos eine der starken Tiroler Tourismusmarken, unterscheidet sich aber doch vom allgemeinen Tourismusbild Tirols. Eine Strategieänderung wäre dennoch ein deutliches Signal.“

Und wer bestimmt – der Tourismus oder die Politik? Schöpf, verankert in beiden Sphären, versucht sich als Diplomat: „Wer die Segnungen – und das nenne ich jetzt bewusst so – des Tourismus für die Täler in Tirol ernst nimmt, der muss zum Tourismus halten. Ob das totale Unterwerfung bedeutet, ist eine andere Frage. Aber ich habe auch nicht den Eindruck.“ Landeshauptmann Günther Platter weicht der Antwort nach dem Vorrang aus und wechselt auf die allgemeine Ebene: „Es geht um eine Balance zwischen Gesundheit, wirtschaftlicher Entwicklung und Freiheit der Gesellschaft. In dieser Krise müssen das soziale Miteinander und das gegenseitige Verständnis gewährleistet sein.“ So wie im Paznaun. Wo beim Lawinenunglück 1999 nur Galtür in die Schlagzeilen geriet – und ein wenig Valzur, ein Ortsteil von Ischgl. Heute läuft im Alpinarium von Galtür die Ausstellung „Goodbye Glaciers – der Gletscherschwund in Bildern“. 200 Meter über Ischgl. Ein paar Flecken Schnee sind noch da.

Tiefer im Inntal oder gar in den Ebenen ist das von Platter geforderte Verständnis enden wollend. Auch sein Rücktritt wurde im Zuge des Tiroler Corona-Desasters schon gefordert – und vor allem jener von Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg. Während dieser weiter behauptet „Wir haben alles richtig gemacht“, pflegt Platter den Rückzugsmodus: „Die Ereignisse in Ischgl machen betroffen. Es macht betroffen, dass sich viele Menschen hier infiziert haben und es macht betroffen, dass sich das Virus verbreitet hat.“ Gegenüber der „TT“ wiederholt er zwei Tage später die Forderung nach der „Balance“ und sagt: „Den Hut draufzuhauen, ist nicht meine Art.“ Die Zeitung titelt „Kein Gedanke an Rücktritt“. Markus Wilhelm analysiert: „Schwache Führungspolitiker suchen sich schwache Mitarbeiter. Darum schaut die Truppe rund um Günther Platter auch so aus, wie sie ausschaut.“

"Rücktritte? Am politischen Personal ändert sich ohnehin nichts"

Der Aufdecker meint desillusioniert:“ Ach, Rücktritte! Was soll das, wenn sich die Qualität des politischen Personals nicht ändert?“ Eine Ursache dafür sind die Auswahlkriterien. In Ischgl wurde Werner Kurz Bürgermeister, weil sein Vorgänger mehr Gewinne der Seilbahngesellschaft für die Gemeindekasse haben wollte. Ernst Schöpf kam vor 20 Jahren nicht in die Landesregierung, weil er zum Wirtschaftsbund gehört. Stattdessen wurde einer vom ÖAAB Landesrat: Günther Platter. Er sagt heute: „Wir brauchen nicht mehr Betten in Tirol. Man muss das aber differenziert sehen. Es gibt einige Regionen wie etwa Osttirol, das Obere Gericht oder das Pitztal, wo der Tourismus nicht so stark ausgeprägt ist. Hier setzen wir auch auf regionalwirtschaftliche Programme.“ Schöpf wird die Bemerkung vom Pitztal freuen, mit dem das Ötztal seit Jahren eine Gletscherehe eingehen will –gegen den erbitterten Widerstand von Naturschützern. Er erinnert an eine politische Nachdenkpause in den 1990er- Jahren, „weil es zu viele Anträge auf Neuerschließungen gab. Seilbahntechnisch. Stattdessen wurden Beschneiungsanlagen in den Genehmigungsverfahren wohlwollend begleitet. Weil man gesagt hat: Die Bahnen sind auch wichtig, aber die Geschäftsgrundlage ist der Schnee.“ Im Nachhinein betrachtet haben diese Umweginvestitionen dann viele schneearme Winter gerettet.

Unterdessen wird „die Mitschuld der Bahnen“ für Wilhelm heute zu wenig beachtet: „Nur Experten sprechen bisher von den Gondeln als Virenschleudern. Dort werden Menschen zusammengepfercht, dort wird geschwitzt, gekeucht, gehustet, geschrien, gerempelt. Die Problematik dieses Beförderungsmittels wird in Hinblick auf den nächsten Winter noch ein ganz großes Thema werden.“ Das ganz große Thema für das niederländische TV-Team in Ischgl ist aber weiterhin Corona. Sie fragen immer wieder: Wer hat Fehler gemacht? Wer ist schuld? Gibt es ein System dahinter?

Wilhelm schreibt: „Ich bin mehr als skeptisch, dass die angekündigte Expertenkommission hier überall für Aufklärung sorgen wird.“ Kurz meint: „Bei der Lawine und beim Hochwasser hat sich der Wirbel schnell wieder gelegt. Weil wir zusammenhalten. Ich glaube, das wird wieder gelingen.“ Platter sagt: „Die Tiroler sind es gewohnt, mit Krisen, mit Naturgewalten und mit Rückschlägen umzugehen. Wir verfügen über eine starke Wertehaltung und geben nicht so schnell auf.“ Schöpf hofft, „dass in den Herkunftsländern die Wirtschaft nicht komplett in den Keller rasselt. Unsere Gäste brauchen ein Urlaubsbudget. Das geht sich mit Arbeitsamt oder Hartz 4 nicht aus.“ Zangerl erzählt: „Die Stammgäste, mit denen ich Kontakt habe, schätzen die Gesamtsituation ähnlich ein und sehen Ischgl nicht als Täter bzw. als Schuldigen, sondern wie wir alle es sind, als Opfer.“

Gestern hätte Eros Ramazzotti ein Konzert zum Saisonfinale geben sollen. 25 Jahre nach dem ersten „Top of the Mountain“-Konzert. Elton John, Diana Ross, Tina Turner, Bob Dylan, Rod Stewart, Sting, Pink, Rihanna, Katy Perry, Robbie Williams und viele mehr haben in Ischgl schon die Massen begeistert – so wie Bill Clinton 150 sehr gut zahlende Besucher für eine „Message from the Mountains“. Die hat hier heute niemand. Sie spielen Pingpong mit den Fehlern. Sie sehen keine Schuld bei sich. Sie orten kein System. Sie halten zusammen. Sie verlassen sich aufeinander. Sie bauen eine Therme.