Es ist eine Frage der Perspektive, ob Schriftsteller in ihren Autobiographien die Jahre 1918 bis 1920 eher im Zeichen der Kontinuität oder des Bruchs sahen, ob und in welcher Weise sie die „Revolution“ jener Tage ins Zentrum der Lebensrückschau rückten oder als Episode behandelten. Die Lektionen des weiteren Lebens bestimmten auch die Schilderung der Erlebnisse um den tief greifenden Einschnitt der Jahre 1918 bis 1920. Viele Maler und Schriftsteller arbeiteten an ihren alten Stoffen weiter, wechselten keineswegs ihre eingeübten Techniken, hielten mit ihrer persönlichen Mythologie gegen die neue Zeit.

Alle Texte Arthur Schnitzlers etwa, die nach dem Zeitenbruch 1918 entstanden, gingen aus Notizen zu Personen und Geschichten hervor, die in die Belle Époque der Habsburgermonarchie zurückreichten. Kein einziges nach 1918 entstandenes Werk bezog sich auf die Gegenwart der Republik, alle waren aber in vielen Details und den sich in ihnen zeigenden Krisenerscheinungen von der neuen Zeit imprägniert.

Der Kulturbetrieb führte sein Eigenleben und schien oft losgelöst von der Zeit. Theater spielten die bekannten Stücke der Weltliteratur, die Oper führte den Repertoirebetrieb weiter, die Konzerthäuser waren voll. Die Kultureinrichtungen brauchten sich um Nachfrage nicht zu sorgen, sondern plagten sich mit Fragen der Stromversorgung und des Kohlenmangels ab. Immer wieder mussten sie gesperrt werden.

In den Monaten nach der Republikgründung war der Staat in der Kulturpolitik damit beschäftigt, ob und wie die Theater, die Oper, die Konzerthäuser und die Museen unter den desolaten Bedingungen weitergeführt werden konnten. Wie die Geschichte der italienischen Militärkommission in Wien zeigt, waren die neuen Nachbarstaaten unmittelbar nach Kriegsende durchaus dazu entschlossen, sich an den wertvollen Kunstbeständen der Habsburger zu bedienen. Am Verkauf von Gobelins entzündete sich die heftig debattierte Frage, ob alte Kunstgegenstände zur Finanzierung von Lebensmittelimporten veräußert werden durften.

Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ liefert eine der farbigsten und schönsten Schilderungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, kehrte er aus der Schweiz nach Österreich zurück, um die Paradoxien des neuen Staates und des Lebens seiner Mitbürger zu erleben. „Zum ersten Mal meines Wissens im Lauf der Geschichte ergab sich der paradoxe Fall, dass man ein Land zu einer Selbständigkeit zwang, die es selber erbittert ablehnte“, bilanzierte Zweig die Situation.

Keine einzige relevante politische Gruppierung im Lande vermochte an die Zukunft dieses neuen Österreich ohne radikale Veränderungen wirklich zu glauben, alle träumten von einem anderen Staat, allerdings in recht unterschiedlicher Form. Der Hauptteil von Stefan Zweigs Schilderungen galt allerdings dem Elend im neuen Staat Deutschösterreich. Selbst im Krieg hatten die Menschen in Österreich nicht mehr materielle Not gelitten als im gewonnenen Frieden.

Stefan Zweig schilderte die Situation in der seinem Stil gemäßen Dramatik: „Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim; Kaffee war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab.“

Die materielle Not der Kulturarbeiter war in den Jahren 1918 bis 1920 ein großes Thema in der Öffentlichkeit. Das Elend schien aber keine Auswirkungen auf die Produktion zu haben. Bücher wurden mehr denn je produziert, die Theater ließen mit der Unzahl der Uraufführungen die Kritiker nicht zu Atem kommen, die Kaffeehäuser waren voll mit Leuten, die dieses oder jenes neue Projekt besprachen. Literaten, sofern sie Talent dazu hatten, handelten mit Gütern aller Art, je nach Geschick hatten sie sich als Korrespondenten ausländischer Zeitungen installiert und Anschluss an den Journalismus gefunden.

Die 1920er-Jahre waren eine große Zeit des Feuilletons; Alfred Polgar, Joseph Roth, Robert Musil, Anton Kuh und viele, viele andere sicherten sich das Überleben durch regelmäßige Zeitungsbeiträge. Auch der hektisch produzierende Film- und Kabarettbetrieb nährte Kulturproduzenten. Spekulanten ließen sich als Gönner für Verlags- und Buchproduktion gewinnen, der schnelle Verfall des Geldes hielt trotz Kohlenmangels den Betrieb aufrecht und setzte die ganze kulturelle Szene in Atemlosigkeit und Spannung. Wien erlebte trotz des materiellen Elends eine Blüte in der Verlags- und Kunstproduktion. Stefan Zweig lieferte in seiner Autobiographie eine Skizze der künstlerischen Anstrengung und Hektik der Elendsjahre. „Nie habe ich bei einem Volke und in mir selbst den Willen zum Leben so stark empfunden wie damals, als es um das Letzte ging: um die Existenz, um das Überdauern.“

12. November 1918 – vor dem Parlament wurde die Republik ausgerufen. Arthur Schnitzler notierte wenig begeistert in seinem Tagebuch: „Ein welthistorischer Tag ist vorbei. In der Nähe sieht er nicht sehr großartig aus.“ Voller Argwohn, in trüber Stimmung, ja geradezu mit einem dezidierten Ekel, allerdings wenig aufgeregt, notierte er in den Tagebüchern dieser Jahre die wenig begeisternden Begleitumstände dieser Veränderung. Die Angst ging um in den bürgerlichen Bezirken Wiens, Gerüchte über Übergriffe, Hausbesetzungen und Diebstahl machten die Runde. Die Polizei gewährte nicht mehr den üblichen Schutz, die Staatsorgane waren in Auflösung begriffen, Nachrichten über anrückende italienische oder englische Truppen alarmierten die Bevölkerung. Es gab keine Armee mehr, die einen möglicherweise anrückenden Besatzer stoppen konnte.

Im Cottageviertel, wo Schnitzler wohnte, überlegte man die Bildung einer Bürgerwehr, Felix Salten brachte seine Familie „in Sicherheit“. „Das Militär von der Front, Arbeitslose, Hunger, Mob“, die tragenden Gruppen der Revolte, lösten bei Schnitzler und Salten im Cottageviertel oder bei Hugo von Hofmannsthal in Rodaun Angst und Wut aus. Jetzt, wo der Krieg zu Ende war, war Wien, waren ihre Viertel und Häuser, fühlten sich ihre Familien und ihr Freundes- und Bekanntenkreis bedroht.

„Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein viel gegebenes Drama. Inszeniert im Theater im U-Boot-Bunker in Bremen 1999
„Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein viel gegebenes Drama. Inszeniert im Theater im U-Boot-Bunker in Bremen 1999 © Picturedesk

Was den einen Bedrohung war, galt den anderen als Verheißung. Die Russische Revolution war für viele Schriftsteller das große Vorbild. Am 3. November 1918 hielt die von Egon Erwin Kisch gegründete Rote Garde eine Protestkundgebung vor dem Reichsratsgebäude ab, eine Gruppe zog weiter vor die Zentrale des mächtigen Wiener Bankvereins, um dort Brandreden gegen den Kapitalismus zu halten. Franz Werfel versicherte den Zuhörern, im Augenblick sei man zu schwach, den Sturm auf die Bank zu wagen, aber die Stunde werde schlagen, und „dann werden wir auch diese Geldpaläste besitzen!“. Die Polizei forschte den Redner aus und stellte ihm eine polizeiliche Vorladung zu. Franz Werfel verteidigte sich sehr geschickt als Anhänger Tolstois und des Urchristentums, als strikter Gegner jeglicher Gewaltanwendung. Wenige Tage später, am 12. November 1918, war Werfel wieder dabei, als Egon Erwin Kischs Rote Garde die Ausrufung der Republik zur Gründung einer sozialistischen Republik umfunktionieren wollte.

So manchem Beobachter, auch solchen der Polizei, schien der romantische, linksradikale Putschismus seinen Ausgang in der Literaten- und Künstlerszene zu haben. Was da die jüngere, meist expressionistisch gestimmte Generation betrieb, entsetzte die ältere Generation, wie die Tagebucheintragungen Schnitzlers oder die bitterbösen Attacken Karl Kraus’ in der „Fackel“ zeigten. Franz Werfels Schlüsselroman „Barbara und die Frömmigkeit“ (1929) erinnerte in lebhaften Schilderungen, farbigen Porträts (Egon Erwin Kisch, Franz Blei, Albert Paris Gütersloh, Gina Kaus) und vielen Dialogpartien an die Dramatik der Tage rund um die Republikgründung.

Als die Republik ausgerufen wurde, war auch in Hugo von Hofmannsthals Rodauner Schlössl das Elend eingezogen. Zurückkehrende Soldaten lösten Revolutionsalarm aus, Hofmannsthal war Mitbegründer der Rodauner Bürgergarde. Die wertvollen Sachen wurden in die Wiener Stadtwohnung verfrachtet. Das Ende des Krieges stürzte ihn in die Depression, umso fester hielt er an der alten historischen kulturellen Mission Österreichs fest. Wenn 1921 im „Salzburger großen Welttheater“ der Bettler als Sprecher der Enterbten die Axt erhob, so war darin die Drohung des abgewendeten Bolschewismus allegorisiert.

Viele junge Autoren übersiedelten in den 20er-Jahren nach Berlin und stürzten sich in das rege kulturelle Leben der Roaring Twenties. Der verhinderte Anschluss vollzog sich für sie ganz praktisch, indem die Weimarer Republik bessere Arbeits-, Verdienst- und Projektmöglichkeiten bot. Nicht nur für die ältere Generation, sondern auch für die Gruppe der katholischen Schriftsteller war allerdings eine Degradation zu einer deutschen Provinzstadt schwer erträglich.

Robert Musil reagierte mit Spott, wenn der Anschluss für viele Schriftsteller wegen des kulturellen Überlegenheitsgefühls als eine schlechte Option gewertet wurde. 1918 begann die Debatte über die österreichische Literatur. Mochten die Politiker und Ökonomen von der „Lebensunfähigkeit“ Österreichs überzeugt sein, künstlerisch fühlte man sich als Großmacht.

„Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein viel gegebenes Drama. Hier die Inszenierung der Salzburger Festspiele 2014
„Die letzten Tage der Menschheit“ ist ein viel gegebenes Drama. Hier die Inszenierung der Salzburger Festspiele 2014 © Picturedesk

Während sich die Generation der Jung-Wien-Autoren schwertat, mit ihren Texten in der Gegenwart anzukommen, ließ Karl Kraus nicht davon ab, den Weltkrieg im Mittelpunkt seines Schaffens zu sehen. Das Vorbild für das Dokumentardrama „Die letzten Tage der Menschheit“ („Akt“-Ausgabe 1919, Buchausgabe 1922) war Shakespeare, der die Mächtigen zu Bühnenfiguren gemacht hatte, was nun Kraus kopierte, indem er die beiden Kaiser, die oberkommandierenden Erzherzöge, die großsprecherischen Generäle, die gewichtig kommentierenden Chefredakteure, die humorig schreibenden Frontberichterstatter als Figuren auf die Bühne brachte. Karl Kraus schuf eine monumentale Schurkengalerie jener Herrschaften, die die Menschen leichtfertig in den Tod schickten und ihnen das üble Lob vom „Heldentod“ nachschickten.
Sichtlich eine besondere Freude war es Karl Kraus, seine Schriftstellerkollegen in der „Fackel“ und in den „Letzten Tagen der Menschheit“ an die Verse, Dramen und Artikel von einst zu erinnern.

Wo sie ihre Vergangenheit vergessen wollten, bestand er darauf, sie öffentlich zu machen. Die Wendehälse hatten 1918 Konjunktur, aus den Kriegslyrikern waren Antikriegslyriker geworden, die vaterländischen Barden machten ihre Kotaus vor der neuen, revolutionären Zeit und wurden gar, wie Anton Wildgans, republikanische Burgtheaterdirektoren.
Im Chor seiner Kollegen gesehen ist es sicherlich berechtigt, Karl Kraus als Schriftsteller der Ersten Republik schlechthin zu sehen. Er bereitete die Erste Republik durch sein publizistisches Schaffen und viel beachtete Vorlesungen vor, er war unzweideutig ihr energischster Verteidiger, er verstand seine Auftritte vor einem Massenpublikum auch als Pädagogik der neuen egalitären Freiheit, er verteidigte die Republik gegen die sich rasch formierenden Gegner.

Er hatte ein enges Verhältnis zur Sozialdemokratie, gab 1919 Wahlempfehlungen für sie ab, stellte sich bei den Republikfeiern für politisch-literarische Vorlesungen zur Verfügung und trat nach dem Bruch der Koalition dem reaktionären politischen Katholizismus entgegen.
Otto Bauer publizierte 1923 eine große diagnostische Zeitbilanz. „Die österreichische Revolution“ nahm auch auf die Dichtung der Zeit Bezug und spannte anhand einiger ausgewählter Werke einen Bogen über die „Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz in der österreichischen Literatur“. Bauer nahm einige Zeitromane und einen Gedichtband als Beleg dafür, dass die revolutionäre Stimmung 1920 umschlug.

Mit der Republikgründung hatte sich eine neue, strikt antirepublikanische Literatur positioniert, zu der sich später die katholisch-deutsch-völkische Heimatliteratur gesellte. Ihr besonderes Format erhielt diese rechte Literatur durch ihre Anti-Wien-Ausrichtung. Wien war, in verschiedenen Versionierungen, in diesem Genre der amoralisch-sittenlose Wasserkopf einer kleinen Republik, das Geschäftszentrum der (natürlich meist) jüdischen Schieber und Spekulanten, der Sammelplatz skrupelloser Politikbanditen und schmarotzerischer Weltverbesserer. Die Bevölkerung, ausgepresst durch ein ausgefuchstes Steuersystem, war in Geiselhaft von Neureichen und rabiaten Revolutionären.

Den Anti-Wien-Roman gab es in vielen Schattierungen, von ausgesprochen antisemitischen Pamphleten, etwa Karl Paumgarttens „Repablick“ (1924), bis zum ironisch durchsetzten, versöhnlich endenden Zeitbild „Geister in der Stadt“ (1921) von Thaddäus Rittner. Robert Musil verabscheute all diese Autoren, die sich vordergründig für Politik einspannen ließen und mit ihren Geschichten, wie er meinte, die Haltung der Parteien nur banal illustrierten. Er ignorierte sie oder schrieb über sie vernichtende Kritiken, immer sperrig gegen intellektuelle Moden, hinter denen er einen neuen, bequemen Irrationalismus vermutete und nachwies. Abrechnung, Mobilisierung, Aktivierung – das lag ihm fern, ihm ging es um die „geistige Bewältigung“ dessen, was da geschehen war und geschah.

Seine Essays aus dieser Zeit, die die Arbeit am Monumentalwerk „Mann ohne Eigenschaften“ begleiteten, zählen zum Klügsten, was in der Zeitenwende 1918/20 geschrieben wurde. Die Politisierung der Literatur in der Ersten Republik wurde später oft verdrängt, ist aber unübersehbar. War es zuerst die (mögliche) Revolution, die elektrisierte, war es wenige Monate später die kulturelle Restauration, die bestürzte. Für viele jüdische Künstler wie Arnold Schönberg bedeutete der neue, radikale Antisemitismus einen Wendepunkt in ihrem Schaffen.

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