Es ist eine Frage, die fast alle Tageszeitungen in den heutigen Ausgaben – mitunter sogar auf der Titelseite – umtreibt: Wie ist es möglich, dass die in Österreich lebenden Auslandstürken mit erdrückender Mehrheit Erdogan gewählt haben? Während sich in der Türkei der Amtsinhaber und sein Herausforderer ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern und so Erdogan in eine Stichwahl in zwei Wochen gezwungen wird, haben hierzulande 72 Prozent der Auslandstürken für den autoritär, selbstherrlich regierenden Langzeitherrscher gestimmt. Nur in Belgien schnitt der „Reis“, der Chef, wie er von seinen Anhängern genannt wird, noch besser ab als in Österreich. Auch in den Niederlanden, Deutschland, Frankreich oder in Norwegen hatte Erdogan die Nase vorne. Ein solches Votum ist allerdings nicht gottgegeben. In der Schweiz, Großbritannien, Italien, Schweden, Spanien oder Irland landete Herausforderer Kiliçdaroğlu auf Platz eins.

Was besonders verstört: Wie kann man einem Politiker die Stimme leihen, der die Grund- und Freiheitsrechte, die man in Österreich in vollen Zügen genießt, mit Füßen tritt, der das Land, dem man mitunter seinen Wohlstand verdankt, nämlich Österreich, herabwürdigt? Oder spielen solche rationalen Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle, während kulturelle, identitätsstiftende Motive in der Wahlkabine die Oberhand gewinnen? 

Zu den Gründen: Die türkische Zuwanderung nach Österreich ging im letzten Jahrhundert über die Bühne, in den siebziger und achtziger Jahren wurden gezielt Arbeitskräfte aus ländlichen, ökonomisch rückständigen, konservativ geprägten Regionen von der Bundesregierung als Gastarbeiter nach Österreich gelockt. Im Unterschied zur Schweiz, den USA, England, wohin die Türken, so die Grazer Politikwissenschaftlerin Bilgin Ayata in der Kleinen Zeitung, in der Hochphase der Militärdiktatur oft als politisch Verfolgte geflohen sind. Ahmet Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund, erinnert auch daran, dass Auswanderer mit säkularem Hintergrund und hohem Bildungsniveau heute „schlicht nicht mehr wahlberechtigt“ sind, weil sie sich in der Zwischenzeit in Österreich oder Deutschland eingebürgert haben. „Jene, die jemanden anderen als Erdoğan wählen würden, können gar nicht mehr wählen." 

In Österreich haben laut jüngstem Migrationsbericht 286.000 Menschen türkische Wurzeln, 59 Prozent besitzen immerhin die österreichische Staatsbürgerschaft, 43 Prozent kamen bereits in Österreich zur Welt. 118.000 haben noch einen türkischen Pass. Ein bedenklicher Wert, der auf die mangelnde kulturelle Verwurzelung schließen lässt: 58 Prozent der in Österreich lebenden Türken schauen nicht ORF, Puls 4 oder ATV, sondern konsumieren türkisches Satelliten-Fernsehen, das von Erdogan gleichgeschaltet wurde. 52 Prozent nutzten die sozialen Medien in ihrer Muttersprache, leben also in einer türkischsprachigen Echokammer. Der Zuzug aus der Türkei ist übrigens nahezu versiegt: 3075 Zuwandern standen 2281 Rückkehrern entgegen.

Dass das Votum der Austro-Türken auch Ausdruck einer Heimatlosigkeit, einer Form von Identitätssuche ist, darauf hat die türkischstämmige Burgschauspielerin Zeynep Buyraç jüngst in der Kleinen Zeitung verwiesen: „Viele Auslandstürken fühlen sich immer noch nicht zu Hause und treten diese romantische Suche nach einer Heimat an.“ Erdogan habe „wie kein anderer türkischer und auch österreichischer Politiker geschafft, den Türkinnen und Türken das Gefühl zu geben, dass sie jemand sind, dass sie gesehen werden.“ Das Traurige daran sei: „Wenn diese Menschen in die Türkei gehen, fühlen sie sich auch nicht willkommen. Sie leben zwischen den Welten.“

Statt das Votum hochzurechnen, lohnt sich auch ein Blick auf die Wahlbeteiligung, die in Österreich mit 57 Prozent im Vergleich zur Türkei (um die 88 Prozent) erschreckend niedrig ausgefallen ist. Mit Bussen und Sammeltaxis haben Erdogans Gefolgsleute im großen Stil die Anhänger zu den Wahllokalen in Österreich gekarrt. Am Rande des offiziellen Besuchs bei seinem österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg nahm der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu an einer als Fastenbrechen getarnten Wahlveranstaltung in Wien-Liesing teil, zu der Präsident Erdogan telefonisch zugeschaltet wurde. In jedem Fall haben die Erdogan-Anhänger in Österreich eine besondere Mobilisierungskraft an den Tag gelegt, vielleicht ist auch das eine Erklärung für das Rekordergebnis. 

Einen politisch entspannten Dienstag 
wünscht