Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war der Anblick von Atomkraftwerken nichts Ungewöhnliches für mich. Es war in den Jahren als EU-Korrespondent in Brüssel. Monat für Monat tauchten auf dem Weg ins Straßburger Parlament bei Thionville wie vorzeitliche Riesen die rauchenden Kühltürme des Atommeilers von Cattenom aus der weiten lothringischen Hügellandschaft auf. Und ich erinnere mich gut daran, wie ich jedes Mal mit einer Mischung aus Faszination und Schaudern nicht den Blick von ihnen lassen konnte, ja oft sogar noch den Kopf drehte und gebannt zurückschaute.

Als Österreicher ist mir die tiefe Abneigung gegen Atomkraft gleichsam eingebrannt, und ich glaube, nein, ich bin überzeugt davon, dass der Stolz darauf, als einziger Staat auf weiter Flur seit jeher auf die Erzeugung von Nuklearenergie verzichtet zu haben, für das Land mittlerweile fast genauso identitätsstiftend ist wie die immerwährende Neutralität. Doch ähnlich wie bei der Bündnisfreiheit sind wir auch hier nicht immer ehrlich und spielen mit gezinkten Karten. Manche Nachbarländer, allen voran Tschechien, werfen Österreich sogar Heuchelei vor.

Während die heimische Politik sich – stets die Wählerschaft im Auge - auf dem europäischen Parkett als Vorreiter eines atomstromfreien Europas inszeniert, fließt über die Einbindung in das europäische Netz zu Spitzenzeiten bis zum heutigen Tag Atomstrom aus französischen, deutschen und tschechischen AKWS durch unsere Leitungen. In seiner skandalumwitterten, im Jahr 2009 anlässlich des tschechischen EU-Vorsitzes im Ratsgebäude in Brüssel enthüllten Installation „Entropa“ stellte der Prager Künstler David Černý daher mit grimmigem Witz Österreich als grüne Landschaft mit vier Kühltürmen eines Atomkraftwerks dar.

Kontrafaktische Geschichte nennen Historiker die Beschäftigung mit ungeschehenen Ereignissen. Was wäre, wenn Cäsar den Rubikon nicht überschritten, Napoleon bei Waterloo gewonnen und Donald Trump gegen Hillary Clinton unterlegen wäre? Darüber nachzudenken lohnt sich mithin auch deshalb, weil es im Nachhinein oft scheint, als ob die Gesamtheit der in der Vergangenheit stattgefundenen Ereignisse, gefällten Entscheidungen und sogar unverhofften Wendungen, also das, was man für gewöhnlich Geschichte nennt, unaufhaltsam und linear auf den einen schicksalhaften Endpunkt zugelaufen sei. Doch der Schein trügt. Nur wenige Geschehnisse sind wirklich alternativlos.

Wir Österreicherinnen und Österreicher zeigen – durchaus nicht unberechtigt – mit dem Finger auf die Meiler von Temelín und Krško, verdrängen dabei aber nur allzu gern und oft, dass die Dinge seinerzeit, vor der allesentscheidenden Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf im Jahr 1978, keineswegs so eindeutig waren, wie heute gemeinhin suggeriert und angenommen wird.  Wie bei Corona, wenngleich nicht so unversöhnlich, verliefen die Risse damals quer durch die Familien. Und am Ende entschieden sich die Österreicher mit nur hauchdünner Mehrheit gegen die Atomkraft.

Wäre das Referendum anders ausgegangen, würden wir dann wie das Gros der Franzosen die Atomkraft in unbeirrbarer Fortschrittsgläubigkeit nicht weiter hinterfragen und als etwas Selbstverständliches nehmen? Oder wäre sie – ähnlich wie in Deutschland, auch als, wie ich meine, spätes Erbstück der Romantik und deren schwärmerischen Hinwendung zur Natur, bis zum heutigen Tag ein Spaltpilz?

Die Antwort darauf muss ich Ihnen, geschätzte Leser, vorenthalten, weil ich sie schlicht und einfach nicht weiß. Aber ich lege Ihnen zur Vertiefung des spannenden Themenkomplexes die Lektüre unseres heutigen Tagesthemas über die Renaissance der Atomkraft in Europa ans Herz.

Mit freundlichen Grüßen