Andermatt, du aufregende Schönheit mit deinen zwei Gesichtern. Das eine Gesicht zeigst du im Charme eines urigen Alpendorfs mit deiner lang zurückreichenden Geschichte und stolzen Bewohnern, die ihre Eigenständigkeit gegen nichts eintauschen würden. Das andere Gesicht resultiert aus dem aberwitzigen Plan eines Ägypters, der mit bemerkenswert langem Atem seine Vision eines spektakulären Alpenrefugiums verwirklichte.

Wer diese beiden Orte in einem Dorf besuchen möchte, sollte natürlich den Zug nehmen in einem Land, in dem das Bahnfahren zum guten Stil und für Auswärtige unbedingt erlebt gehört. Am besten mit dem „Swiss Travel Pass“, der macht Touristen den sorgenfreien Bahngenuss besonders einfach, auch etliche Ausflugsschiffe und andere Öffis sind inkludiert. Die Schweiz lässt sich so in ihrer geografischen Vielfältigkeit aus der ersten Reihe fußfrei erleben. Nach Andermatt geht es von Zürich – Direktzüge in die Zwinglistadt gibt es übrigens auch von Wien und Graz – vorbei an Zugersee und Vierwaldstättersee und schließlich in spektakulären Tunneln und Kehren hinauf in das von atemberaubenden Bergen umgebene Alpenidyll.

Samih Sawiris investierte mehr als 1,3 Milliarden Euro in die Modernisierung Andermatts. Abgeschlossen soll das Projekt erst 2024 sein
Samih Sawiris investierte mehr als 1,3 Milliarden Euro in die Modernisierung Andermatts. Abgeschlossen soll das Projekt erst 2024 sein © Swissalps

Zwischen Idyll und Innovation

In dem auf 1400 Metern Seehöhe gelegenen Ort angekommen, bietet sich zunächst ein Spaziergang durch die zwei eingangs erwähnten Welten Andermatts an: Die eine Welt, das ist das idyllische alte Zentrum, das die Zeiten überdauerte, tief verwurzelt mit diesem Stückchen Land im Urserental. Mit Häusern in klassischer Alpenarchitektur, bodenständiger Küche (Käsefondue nicht auslassen!) und, direkt im Ort, den Liftanlagen, die im Winter 180 Kilometer schneesicheres Skivergnügen versprechen und im Sommer zu gipfelnahen Wanderungen einladen: Besonders zu empfehlen ist für Ausdauernde der Weg zu den vier Quellen, die das beschauliche Fleckchen Erde – durchaus im Sinne der Andermatter – als Zentrum Europas erkennen lassen: Mit Rhein, Reuss, Ticino und Rhone entspringen gleich vier bedeutende Flüsse.

Die Schweizer wissen, was sie tun, sind nicht grün hinter den Ohren, allenfalls wollen sie grün handeln: Andermatt zum Beispiel möchte sich zum ökologischen Vorzeigeort in den Alpen entwickeln. „Swisstainable“ lautet das Schlagwort, das alle touristischen Nachhaltigkeitsbestrebungen zusammenfasst: Von der im doppelten Sinne grünen 18-Loch-Golfanlage über hybride Pistenbullys bis zu den Windrädern, die auf 2300 Metern am Berg Gütsch das Dorf mit Strom versorgen. Diese Kraftwerke führten, für gelernte Österreicher überraschend, unter den Andermattern zu keinen Verwerfungen, im Gegenteil: Sie gehören ihnen und, das ist an jeder Ecke zu hören, man ist stolz auf diese Eigenständigkeit.

Das historische Andermatt gefällt als uriges Idyll eines Alpendorfs
Das historische Andermatt gefällt als uriges Idyll eines Alpendorfs © Daniel Hadler

Andermatts Märchenprinz

Nur wenige Schritte vom alten Ortskern entfernt, zog Samih Sawiris – in Andermatt sprechen sie alle respektvoll vom „Herrn Sawiris“ – im Ortsteil Reuss sein modernes Alpendorf auf. Wie im Märchen der Prinz küsste der Milliardär das Urserental im kleinen Kanton Uri vor 20 Jahren aus seinem Dornröschenschlaf. In dieses war es gefallen, nachdem das Schweizer Militär im Rahmen einer Heeresreform seinen Rückzug eingeleitet hatte. Die Folge damals: Landflucht und eine veraltete Infrastruktur ließen Andermatt auf dem Abstellgleis zurück.

Heute ist das autofreie Reuss dank des Ägypters Bühne moderner, gehobener Architektur, die sich in Hotels und Apartmentkomplexen ausdrückt, gestaltet in stilvollen Interpretationen der Alpenbauästhetik. Ein Alpendorf als Luxusutopie inklusive Konzertsaal. Bis 2040 soll Sawiris Ensemble vollständig und die beiden Andermatt-Welten zusammengewachsen sein.

Zwar ließe sich das Urserental als Bärnthal übersetzen, den braunen Zottel findet man heute nur mehr im Wappen von Andermatt. Andere historische Zeugen sind noch allgegenwärtig: Mächtige militärische Bunkeranlagen, die im Kriegsfall der Staatsmacht und der Bevölkerung Sicherheit bieten sollten, durchziehen in diesem Teil der Schweiz den harten Felsen wie Löcher den Schweizer Käse. Wer die Ausmaße erkennen will, muss hoch hinaus: Nichts einfacher als das an einem Ort, an dem die 3000er zum Greifen nah sind.