Bahnhof Villach, Terminal 2: Das etwas verlassen anmutende Areal lässt Zweifel aufkommen. Soll tatsächlich hier der Autoreisezug Optima Express mit Ziel Edirne, der westlichsten Stadt der Türkei, starten? Im Vollmond zeichnet sich schließlich die Silhouette eines auf seinem Gebetsteppich knienden Mannes ab. Ok, das muss also richtig sein.

Er ist umgeben von einem kleinen Grüppchen wartender Menschen, gut gewappnet mit Kühltaschen – trotz angekündigter Verpflegungsmöglichkeit im Zug. Schließlich ist man auf eine zwei Nächte und einen Tag dauernde, 32-stündige Fahrt – so zumindest die Planvorgabe – eingestellt. Quasi nonstop. Denn Aussteigen zwischendurch auf der insgesamt 1399 Kilometer langen, die Länder Slowenien, Kroatien, Serbien und Bulgarien durchquerenden Strecke ist nicht erlaubt. Planmäßig gehalten wird ohnehin hauptsächlich an den Grenzen, denn hier heißt es jeweils die Lok der nationalen Eisenbahnlinie inklusive Lokführer vor den 500 Meter langen Zug mit sechs Liegewaggons, zehn Autowaggons und einem Speisewagen vorzuspannen.

Am Rande der Nebensaison ist zwar das kleine, mit viel Platz privilegierte Grüppchen von 24 Passagieren quantitativ weit von der sommerlichen Vollauslastung mit guten 200 Passagieren entfernt, seine Zusammensetzung ist allerdings repräsentativ. Es besteht Großteils aus in Deutschland lebenden Türken, die zumindest einen Teil der oft langen Strecke nach Hause bis teilweise ins tiefste Anatolien stressfrei, ohne am Steuer zu sitzen, erleben wollen. Zwei urlaubshungrige Biker träumen von der Freiheit auf zwei Rädern im Süden. Und die wenigen Unmotorisierten stellen sich frei nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ dem Eisenbahnabenteuer, auch ganz im Sinne des Nachhaltigkeitsgedankens. Ich gehöre zu ihnen.

Ostblock-Charme und Gratis-Kaffee

Pünktlich um 21.30 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Man fühlt sich beim überaus freundlichen wie sprachgewandten serbisch-stämmigen Team sofort gut aufgehoben. Im Liegewagen aus DDR-Produktion versinke ich nicht nur in das Kopfkissen, sondern dank Gardinen, Holzoptik und „Fenster auf“-Option auch gleich in eine Nostalgiewelle, gepaart mit Gegenwartsfreude: Trotz Altersschwäche ist alles in gutem und sauberem Zustand.

Es geht vorbei an Jesenice, Kranj zeichnet sich am Handy-GPS ab, das beruhigende Rattern wiegt in den Schlaf, Stillstand holt in den Wachzustand zurück. Vor dem Auge offenbart sich abermals das Bahnhofsschild von Jesenice. Was ist passiert? Ein Erdrutsch blockiert die Gleise – man musste umkehren. Bald wird es Morgen in der slowenischen Grenzstadt zu Kärnten und die ersten Kaffeedürstenden begeben sich in den Speisewagen, in ein weiteres nostalgisches Aha-Erlebnis. Er stammt aus dem Fundus der Slowenischen Eisenbahnen, garniert mit jugoslawischem Retro-Chic. Kaffee und Tee gibt es kostenlos – als kleine Entschädigung für die höhere Gewalt, deren Schadensbehebung bis zur möglichen Weiterfahrt einige Stunden dauert.

Und bei großzügiger, kostenloser, entschädigender Kost soll es auch bis zum Ende der Fahrt bleiben, denn Verspätungen wie diese haben einen Dominoeffekt. Der Zug im Fahrplan hat Vorrang, für den Zuspätkommenden heißt es auf die Gleisfreigabe warten. „Es gibt nie zwei gleiche Optima Express-Fahrten“, erzählt Zugleiter Nežan aus seiner 26 Jahre langen Erfahrung. Improvisation sei trotz durchdachter Organisation und Logistik auf der Balkanstrecke stets gefragt. Optima Express ist darin geübt – erfolgreich seit bereits über 40 Jahren, mit bis zu 10.000 Passagieren pro Jahr.

Ljubljana, Zagreb, Belgrad im Schlaf

Beim Morgenkaffee entpuppt sich der Speisewagen sehr rasch als Kommunikationsplattform der erdrutschgebeutelten Schicksalsgemeinschaft. Aliye, die mit ihrer Familie auf Heimaturlaub unterwegs ist, reicht gefüllte Weinblätter. Seda, eine aus Izmir stammende Entwicklungstechnikerin eines Autokonzerns in München, führt mich in perfektem Deutsch in die Kunst des in der Türkei sehr beliebten Brettspiels Tavla ein. Und fast hätte man übersehen, dass der Zug wieder rollt und nun am späten Vormittag gerade Ljubljana (Laibach) durchquert.

Endlich in Bewegung heißt es nun der Landschaft Aufmerksamkeit schenken. Es klappt gut, denn gefühlt steht der Zug jedes Stündchen einmal in nachrangiger Warteposition und nähert sich selten seiner erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Das gemütliche Dahintuckern entlang der Save lässt nostalgische Assoziationen zur legendären Südbahnstrecke aufkommen, die einst hier verlief. Für einen Adrenalinausstoß sorgt schließlich der Anblick des höchsten Schornsteins Europas vom heute stillgelegten Kraftwerk Trbovlje. Auch wenn im Moment keine wagemutigen Kletterer daran hängen, die die 360 Meter erklimmen wollen.

Mit nationaler Lok geht es schließlich während der Nachmittagsstunden durch Kroatien inklusive der Hauptstadt Zagreb, Linsensuppe wird serviert, Hundegebell der dörflichen Streuner und das immer wieder ertönende Signalhorn werden zur beruhigenden Begleitmelodie. Vor meinem geistigen Auge tun sich die berühmten fließenden Uhren des surrealistischen Malers Salvador Dalí auf. Ein wunderbares Gefühl der Zeitlosigkeit stellt sich ein.

Blauer Zug zur Blauen Stunde

Die Passkontrolle der Schengen-Außengrenze zu Serbien vor Einbruch der Nacht holt in die Realität zurück. Balkan-Feeling kommt auf. Die Durchfahrt von Belgrad dann verschlafen zu haben, wird ab dem Morgengrauen reichlichst entschädigt. Denn im Bahnhof der drittgrößten Stadt Serbiens Niš steigt man, ohne auszusteigen, in ein großes Stück jugoslawischer Eisenbahngeschichte ein: Keine Geringere als die betagte Diesellok Dinara 666-001 wird vorgespannt, um den Zug durch die nicht elektrifizierte Strecke bis zur bulgarischen Grenze zu bringen. Sie zog einst den legendären „Blauen Zug“ Titos mit Staatsoberhäuptern wie Mitterrand oder Queen Elisabeth II. durch die Lande.

Heute schleppt sie sich und die Zuggarnitur bedächtig durch die von keinem Winnetoufilm zu überbietende dramatische Schönheit der Sićevac-Schlucht und somit zu den krönenden Momenten der Optima Express-Tour. Die zweitlängste Schlucht Serbiens ist 17 Kilometer lang, es geht bis zu 400 Meter steil nach oben im Tal des Flusses Nišava. Verwachsene Nebengleise, reichlich mit Patina überzogene Tunnel, Äste, die sich fast bis ins offene Zugfenster strecken. Mein Hochgefühl auf Schiene ist trotz Talniveau auf dem Höchststand. An den Ausläufern der Schlucht lässt es sich schließlich kein Stationsvorsteher nehmen, vor sein zumeist recht patiniertes Bahnhöfchen zu treten und dem 500 Meter langen Zug mit seinem Gruß die Ehre zu erweisen. Es wirkt wie ein Eisenbahn-Schauspiel, aber nein, es ist tatsächlich echt.

Und Nežan veranlasst mich zu einem weiteren Begeisterungsausbruch: „Auf Wunsch mieten wir einen Original-Salonwagen des Blauen Zugs für besondere Anlässe an.“ Seine schlechte Nachricht für Eisenbahnromantiker: An der Elektrifizierung dieses Streckenabschnitts wird bereits gearbeitet. In wenigen Jahren wird das Diesellokerlebnis Geschichte sein. Erste ausrangierte Holzschwellen am Rande der Trasse zeugen bereits vom Vorhaben.

Einzigartig in Europa

Nach einigen Lost Places und vergilbten Andreas-Kreuzen entlang des Weges erschallt im Grenzort Dimitrovgrad die Nachricht, es gebe auf bulgarischer Seite ein Problem. Das schweißt die kleine Schicksalsgemeinschaft noch mehr zusammen. Das großartige achtköpfige Zugteam lädt – der Ausnahmesituation geschuldet – spontan zu einem gemeinsamen Spaziergang durch den Ort und auf ein Getränk ein. So hat man nun doch noch serbischen Boden direkt betreten und letztendlich auch bei Einbruch der Dunkelheit die bulgarische Grenze passiert.

Ein letztes Treffen im Speisewagen: Leichte Verärgerungen über die Verspätung werden bei den jungen türkischstämmigen Burschen, die ihre Autos nach Ankara überführen, laut. Doch sie versickern bald im allgemeinen Lob über das herzliche Zugteam, das sein Bestes gab, sowie in gemeinsamen türkischen Tänzen.

Nach kurzer Nachtruhe und 54 Stunden Zugfahrt ein Klopfen an der Abteiltür: „In fünf Minuten Endstation Edirne.“ Und Nežan meint beim Abschied: „So eine Verspätung wie diese ist eine extreme Ausnahme. Das Wichtigste ist mir aber, dass wir sicher ankommen. Das hat bis jetzt immer funktioniert.“ Er sieht mir meine Wehmut an. Ich wäre noch geblieben. „So eine Reise wie mit unserem Optima Express werden Sie kein zweites Mal in Europa finden“, meint er. Ich teile seine Meinung vollends.