Hat, ach, Philosophie, Juristerei und Medizin studiert, der werte Doktor Faust, leider auch Theologie, und obwohl die Virologie fehlt und natürlich das Wissen um ein Virus namens Covid-19, findet der arme Tor später auf seinem berühmten Osterspaziergang Worte, die gespenstisch an aktuelle Sehnsüchte nach Licht, Luft, Freiheit und Geselligkeit erinnern. Denn nicht nur der Herr ist im Faust’schen Monolog auferstanden, auch die Menschen sind es. "Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / aus der Straßen quetschender Enge ..." Freilich: Wie das Volk im Gedicht dieser Enge entkam, wäre in Tagen wie diesen schlicht verboten. Denn der österliche Spaziergang mündet bei Goethe in ein "buntes Gewimmel und Getümmel, in ein exzessives Fest unter freiem Himmel, bei dem alle Schranken fallen. Kein "Social Distancing" weit und breit.

Jene edle Fortbewegungsart, der Goethe ein literarisches Denkmal gesetzt hat, feiert aber in Krisenzeiten wie diesen eine wunderbare Renaissance. Der Spaziergang, also das Gehen an sich, ist gleichsam zum Synonym für jene Entschleunigung geworden, nach der sich viele gesehnt haben und zu der der rasende Mensch nun mehr oder weniger sanft gezwungen ist. "Mit dem Gehen ist es wie mit dem Schreiben", schreibt Ilija Trojanow im Buch „Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß". Denn: "Fast jeder kann es. Trotzdem ist es eine Kunst, eine Lebensform, eine Haltung."

Und der prototypische deutsche Geher Johann Gottfried Seume, der auf seinem legendären "Spaziergang nach Syrakus" übrigens auch Österreich durschritt, meinte gar: "Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und das Selbständigste in dem Mann und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge." Dass Seume den ehrenvollen Gang nur dem Manne zubilligt, liegt vermutlich am Zeitpunkt (1802), zu dem er durch die Weltgeschichte schlenderte.

Die Kunst des Gehens also, in der jetzigen Hermetik idealerweise alleine ausgeübt. Die Vereinzelung aber diesfalls nicht als weitere Verpuppung des Egos, sondern als Gegenteil davon: das Solitäre als solidarischer Akt im Dienste des Gemeinwohls. Wer geht, ist bei allen Sinnen und ent-geht vielem: der Eile, dem Lärm, den sozialen Verlockungen, der Masse, den Moden, dem Wortgeklingel der Schwätzer. Und wer seine Nase alleine in den Himmel steckt, steckt niemanden an.

Gehen, wohlgemerkt. Sie wissen schon: langsam einen Fuß vor den anderen setzen. Nichts weiter! Nicht laufend mit dem Blick auf den Pulsmesser durch die Gegend hecheln, nicht mit zwei Stöcken am Boden entlangkratzen, auch nicht Wandern, dem wiederum haftet der Wettbewerb an, das Kompetitive, das pfadfindermäßig Kartografierte. Wandern ist festgemiedert, Gehen ist vogelfrei. Ohne Maß und Ziel, ohne Müssen und Zweck. Ohne Ballast auch. Je mehr Last, desto weniger Lust. Nur der unbeschwerte Geher ist ein solcher.

Wer wahrhaftig geht, geht absichtslos hinein in die Natur, gerne auch in die Stadt, dann wird der Geher zum Flaneur; jedenfalls ist das Gehen oder Flanieren naturgemäß immer auch ein Hin- und Hineingehen in sich selbst – mit allen Risiken, Chancen und Möglichkeiten. „Wenn ich in mich gehe, bin ich außer mir.“ Das Fried-Zitat lässt zwei Schlussfolgerungen zu: außer mir vor Freude. Oder: außer mir vor Schrecken. Man weiß nie, wem man bei diesem Einkehrschwung begegnet.

"Wer geht, sieht die Mäuse", weiß wiederum Werner Herzog und meint damit, dass eine Landnahme, bei der man jeder Winzigkeit gewahr wird, nur durch Fußnahme möglich ist. Ich sehe jetzt keine Mäuse, aber: Krähen, die hochmütig durch Ackerfurchen stiefeln; trockene Erde, die schon die Frühjahrssaat in sich trägt; Bäume mit pfiffigen Windfrisuren; die Siedlungen der Zugezogenen, die wie Würfelzucker auf der Landschaft picken. Und ich sehe Schilder, die dem Geher sagen, was er alles nicht darf: "Begehen verboten", "Durchgang verboten".

Vorbei an den rostigen Verbotstafeln plätschert der zugewucherte Bach, in dem keine Fische schwimmen, dafür viele Erinnerungen. Die Gnade der selektiven Wahrnehmung, nur im Rückblick ist die Welt unversehrt. Der Blick auf ein anderes Schild holt den Geher in das Gegenwärtige zurück: „Die Pfarrkanzlei ist besetzt. Persönliche Kontakte bitte nur in dringenden Fällen.“ Social Distancing! Gänzlich ent-gehen kann man der aktuellen Lage doch nicht.

Nicht nur in den Äckern liegt die Saat, auch im Gehen selbst. Wer geht, hat im Glücksfall die Worte an seiner Seite, und die Gedanken, die damit einhergehen, vielleicht sollte man sie Geh-danken nennen. Rousseau, Thoreau, Nietzsche, Woolf, Kierkegaard, Goethe, Walser (Robert), Kafka. Allesamt leidenschaftliche und oft auch obsessive Geher, die sich ihren Satzschöpfungen schrittweise näherten, in und mit der Bewegung nahmen die Kopfwelten Form und Gestalt an; und dann, am Schreibtisch oder sonst wo sitzend, haben diese Dichter-Geher ihre meist reiche Worternte eingefahren.

Faust-Worte wie diese: „Aus dem hohlen finstern Tor / dringt ein buntes Gewimmel hervor. / Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / denn sie sind selber auferstanden.“