Weinen Säuglinge viel, sind diese häufig unruhig und schlafen sie nachts kaum, kann das junge Eltern schnell zur Verzweiflung bringen. Auch wenn das ganz normal sein kann, werden diese Phänomene von Herstellern von Muttermilchersatzprodukten (Formula) häufig pathologisiert, warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das Ziel: Das eigene Produkt als Lösung anpreisen und vermarkten. Allerdings gehören solche Verhaltensweisen bei Kindern einfach zur Entwicklung dazu, heißt es vonseiten der Expertinnen und Experten.

Derlei Marketing beeinflusse vor allem Mütter, die nicht stillen möchten. Alle Informationen, die Familien über Säuglingsnahrung erhalten, müssten korrekt und unabhängig von der Industrie sein, um eine fundierte Entscheidungsfindung zu gewährleisten, was bisher nicht überall der Fall sei, heißt es in einer Review-Serie, die im Fachmagazin "The Lancet" veröffentlicht wurde.

Influencer als Werbeträger

Im Rahmen der Review-Serie wird auch das Werben über bezahlte Influencer, die Produktplatzierungen ermöglichten, kostenlose Proben anböten und dadurch den Online-Verkauf förderten, gerügt. All das habe auch Folgen: Denn trotz erwiesener Vorteile des Stillens, werden weltweit weniger als die Hälfte der Säuglinge und Kleinkinder gemäß den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestillt.

Im Vergleich dazu ist der Umsatz mit kommerziellen Formula-Produkten auf etwa 55 Milliarden US-Dollar pro Jahr gestiegen. Daniela Karall, stellvertretende Direktorin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde der Tirol-Kliniken, sagt dazu: "Im deutschsprachigen Raum verlassen etwa 85 bis 90 Prozent der Mütter die Geburtsklinik stillend, mit drei Monaten sind es noch etwa 50 Prozent, die stillen, mit sechs Monaten nur noch rund zehn Prozent. Dieser Trend hat sich in den letzten 20 Jahren kaum geändert."

Noch nie wurden mehr Säuglinge und Kleinkinder mit Formula versorgt als heute: "Zur Stillsituation in Österreich ist letztes Jahr die Sukie-Studie veröffentlicht worden (Studie zum Stillen). Darin heißt es, dass die ausschließliche Stillrate 55,5 Prozent in der ersten Lebenswoche beträgt, 38,7 Prozent der Kinder werden zum Teil gestillt. Im Alter von vier Monaten werden 30,5 Prozent der Kinder ausschließlich gestillt und 43,2 Prozent teilgestillt. Mitte des sechsten Lebensmonats werden neun Prozent der Kinder ausschließlich gestillt, gegen Ende des sechsten Monats sinkt dieser Anteil auf 1,9 Prozent", so die Expertin.

1981 hatte die Weltgesundheitsorganisation den Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten beschlossen. Der WHO-Kodex verbietet unter anderem, dass zur Verkaufsförderung von Formula Mütter vom Stillen abgehalten werden. Nicht alle WHO-Mitgliedstaaten haben den Kodex jedoch in ihren nationalen Gesetzen verankert. Die freiwillige Übernahme des Kodex sei nicht ausreichend, urteilt die "Lancet"-Review-Serie und dringt auf einen internationalen Rechtsvertrag.

WHO-Empfehlung

Die WHO empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen und bereits innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt mit dem Stillen zu beginnen. Gesundheitliche Vorteile des Stillens für Kinder und Mütter sind mittlerweile international anerkannt. Kinder, die während der ersten drei bis vier Lebensmonate nicht ausschließlich gestillt werden, sind anfälliger für Entzündungen des Magen-Darm-Traktes, der Atemwege, Lungen und Ohren.

Zudem sind nicht gestillte Kinder im späteren Leben häufiger übergewichtig oder haben Diabetes. Bei Müttern, die nicht stillen, besteht ein höheres Risiko für Brust- und Eierstockkrebs. Daniela Karall meint: "Die wissenschaftliche Evidenz für die gesundheitlichen Vorteile von Muttermilch ist sehr gut. Stillen beziehungsweise die Ernährung mit Muttermilch ist der Goldstandard, an dem sich alle anderen Nahrungen messen müssen."

Druck auf Mütter ist der falsche Weg

Wichtig ist es anzumerken: All dies gilt für jene Mütter, bei denen es mit dem Stillen (ausreichend) klappt. Aus unterschiedlichen Gründen kann es vorkommen, dass das nicht der Fall ist. Daher ist es auch wichtig, dass Formular-Produkte sich am, von der Expertin angesprochenen, "Goldstandard" orientieren. So können auch Kinder, deren Mütter nicht stillen können, gesund aufwachsen. Setzen sich Mütter, bei denen es mit dem Stillen nicht klappt, diesbezüglich stark unter Druck, verbessert das die Situation meist nicht und psychischer Stress wird erzeugt. Mehr zum psychischen Druck, der auf Müttern in Bezug auf das Stillen lastet, können Sie hier im Podcast nachhören.