Die stachelartigen Fortsätze (Spikes) der aktuellen Sars-CoV-2-Varianten "Delta" und "Omikron" docken schneller, stärker und länger an menschliche Zellen an als jene Varianten der Coronaviren zu Beginn der Pandemie, berichten österreichische Forscher im Fachjournal "Nature Communications". Die Krankheitserreger werden dadurch rascher aufgenommen und wahrscheinlich weniger leicht durch Luftstrom, Schleim oder Blutfluss von den Wirtszellen abgelöst.

Ein Team um Peter Hinterdorfer vom Institut für Biophysik der Universität Linz untersuchte mittels Rasterkraftmikroskopie und Computersimulationen, wie die Coronaviren-Spikes an der Oberfläche menschlicher Zellen haften. Die aus drei identischen Bauteilen aufgebauten Spikes verändern beim Andocken an ACE2 Eiweißstoffe auf der Zelloberfläche rasch ihre Form, berichten die Forscher. Dadurch rotieren ihre Greifzonen (Rezeptorbindungsdomänen) in einer bogenförmigen Bewegung und decken zusammen fast einen ganzen Kreisbereich von 360 Grad ab, schrieben sie.

Gesteigerte Infektiösität

"Als hochdynamische molekulare Greifzange bildet es so bis zu drei enge Bindungen mit dem auf der Zelloberfläche befindlichen ACE2", erklären die Forscher. Bei den Spikes der Delta- und Omikron-Varianten sei die Bindung des Virus an den ACE2-Molekülen der Wirtszellen im Vergleich zur Ursprungsvariante (Wuhan-1) deutlich verstärkt und verlängert. Die Delta-Variante haftet vor allem schneller, und Omikron zehnmal länger.

Die veränderte Bindungsdynamik der aktuell zirkulierenden Varianten steigert ihre Infektiosität und die Virenübertragung, so das Forscherteam. Zu diesem zählte auch der österreichische Molekularbiologe Josef Penninger, der das Life Sciences Institute (LSI) der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) leitet.

XBB.1.5 in Europa auf dem Vormarsch

Zu diesen neueren Varianten zählt auch XBB.1.5. Und diese dürfte sich aufgrund ihrer Eigenschaften auch in Europa zur dominanten Variante aufschwingen, prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Jüngste Daten aus einigen Ländern der Region fingen an, auf die zunehmende Präsenz von XBB.1.5 hinzudeuten, sagte der Direktor des WHO-Regionalbüros Europa, Hans Kluge, am Dienstag bei einer Online-Pressekonferenz. Fälle würden in kleiner, aber wachsender Zahl entdeckt. Man arbeite daran, die potenziellen Auswirkungen davon zu bewerten.

Nach drei langen Pandemiejahren könne man sich keinen weiteren Druck auf die Gesundheitssysteme leisten. Hinsichtlich der verschärften Coronalage in China teilte Kluge die aktuelle Einschätzung der EU-Gesundheitsbehörde ECDC, dass der Anstieg der dortigen Fallzahlen die epidemiologische Lage in Europa voraussichtlich nicht größer beeinflussen wird. Den verfügbaren Informationen zufolge seien die in China zirkulierenden Varianten diejenigen, die auch schon in Europa und anderswo gesehen worden seien.

Man dürfe jedoch nicht selbstgefällig werden, sagte Kluge. Es sei nicht unangebracht, dass Länder Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz ihrer Bevölkerungen ergriffen. Die Staaten, die vorsorgliche Reisemaßnahmen einführten, sollten aber darauf achten, dass diese in der Wissenschaft verwurzelt, angemessen und diskriminierungsfrei seien.