So viel steht fest: Das Zungenbändchen ist eine normale anatomische Struktur, die die Unterseite der Zunge mit dem Mundboden verbindet. Es entwickelt sich in der 23. Schwangerschaftswoche und findet sich bei mehr als 99 Prozent aller Menschen.

Das typische Zungenbändchen endet einige Millimeter vor der Zungenspitze und lässt somit einen Teil der Zungenspitze frei beweglich. Ein zu kurzes Zungenbändchen wird auch als Ankyloglossum bezeichnet und wird selbst bei großzügiger Indikationsstellung bei weniger als drei Prozent aller Neugeborenen festgestellt. Eine wissenschaftlich reproduzierbare Methode zur Diagnostik eines verkürzten Zungenbändchens wurde bisher nicht gefunden, auch bezüglich des Krankheitswertes herrscht große Uneinigkeit.

Weitgehend einig sind sich die Autoren diverser Fachartikel, dass eine operative Durchtrennung sinnvoll ist, wenn das Zungenband bis zur Zungenspitze reicht und sich die Zunge beim Herausstrecken herzförmig oder schalenförmig verformt.

Das Ende des gesicherten Wissens

Hier jedoch endet das gesicherte Wissen laut dem Kinderchirurgen Johannes Schalamon, der die Kinder- und Jugendchirurgie am Eltern-Kind-Zentrum am LKH Klagenfurt leitet und zuvor am LKH Uniklinikum Graz tätig war. Der vierfache Vater stellt fest: "Das meiste, was darüber hinaus behauptet wird, ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Es beginnt bereits mit der Diagnosestellung eines Ankyloglossums. Dieses wird sowohl von Hebammen, Kinderfachärzten, Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, Zahnärzten, Kieferchirurgen und Kinder- und Jugendchirurgen diagnostiziert und auch behandelt."

Dadurch entstünden unterschiedlichste Blickwinkel, auch im niedergelassenen Bereich – ohne die Sinnhaftigkeit bei weniger eindeutigen Fällen zu hinterfragen. Hebammen durchtrennen das Zungenbändchen teilweise schon unmittelbar nach der Geburt.
Die Liste der angeblichen Indikationen dafür reicht laut einschlägiger Literatur aus dem Umfeld der Stillberatung von Schmerzen beim Stillen, mangelnder Gewichtszunahme, zu langen Stillzeiten, schnalzenden Geräusche beim Stillen, Blähungen und Verstopfungen bis hin zum Reflux, Schlafapnoe, drohender Sprachentwicklungsstörung und Depressionen der Mutter und einigem mehr. Wissenschaftlich betrachtet sei das freilich ebenso nicht haltbar.

Dazu hat sich in den letzten Jahren ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit Zungenbändchen entwickelt: Das "hintere Zungenbändchen". Laut Schalamon konnte die Unterscheidung zwischen einem "hinteren" und einem "vorderen" Zungenbändchen in einer sehr aufschlussreichen Publikation von Mills et al., nicht nachgewiesen werden: "Somit gehört das 'hintere' Zungenbändchen in das Reich der Mythen."

Wem hilft eine Durchtrennung des Zungenbändchens?

Aber wem hilft eine Durchtrennung des Zungenbändchens, der Mutter oder dem Kind? "Eine der kompetentesten Studien zu diesem Thema stammt aus der Cochrane-Database, wo 2017 von O’Shea et al. festgestellt wurde, dass sich für einen kurzen Zeitraum nach der Durchtrennung die vorher bestehenden Brustschmerzen bessern könnten, ein positiver Effekt auf den Stillerfolg wurde nicht gefunden."
Auch in Bezug auf die Sprachentwicklung gibt es in einer aktuellen Studie von Visconti et al. nach der Durchtrennung des Zungenbändchens keine eindeutigen Hinweise auf eine nachweisliche Verbesserung.

Ganz speziell beim Entfernen des genannten "hinteren" Zungenbändchens begebe man sich außerhalb von Kinder- und Jugendchirurgien auf "extrem dünnes Eis". Es komme zu dramatischen Situationen, weil außerhalb einer chirurgischen Einrichtung eine allfällige Blutungskomplikation mit konservativen Mitteln kaum beherrscht werden könne. Dazu kommt: Das "hintere" Zungenbändchen sei laut anatomischen Studien deshalb unsichtbar, weil es nicht existiert. Es werden laut Schalamon immer mehr Fälle bekannt, bei denen dieser "kleine" operative Eingriff zu einer bedrohlichen Blutung geführt habe – auch Todesfälle im Zusammenhang mit der Durchtrennung seien bereits dokumentiert worden (Aspiration von Blut, Verbluten).

Schalamon weiter: "Bei manchen Kindern handelt es sich darüber hinaus um eine Fehldiagnose, wenn eine andere, meist neurologische Ursache für die festgestellte, der Zungenbeweglichkeit angelastete Symptomatik besteht. Aber auch ein Wiederauftreten durch inkomplette Durchtrennung oder ausgeprägte Vernarbung ist beschrieben." Und: "Beim Durchtrennen des nicht existierenden 'hinteren' Zungenbändchens können – anders als beim vorderen – sowohl akute als auch lang anhaltende Schmerzen auftreten." Davon sollte, so der Experte, sowieso Abstand genommen werden.

Zusammenfassend sollte die Indikation zur Durchtrennung eines Zungenbändchens also nicht inflationär bzw. unkritisch gestellt werden.
Am Eltern-Kind-Zentrum des LKH Klagenfurt gebe es strenge und klar geregelte Richtlinien für eine OP. Schalamon: "Falls es sich jedoch tatsächlich um ein stark verkürztes Zungenbändchen handelt, das die Zungenspitze einzieht und die Zungenbeweglichkeit deutlich einschränkt, dann sollte die operative Therapie in fachkundige Hände gegeben werden." Die dabei, wenn auch selten, vorkommenden Komplikationen müssten sowohl fachlich als auch strukturell beherrschbar sein. Das sei nur in Kompetenzzentren wie der Kinder- und Jugendchirurgie des LKH Klagenfurt gesichert.