Sie haben vor einem Jahr in einem Gastkommentar geschrieben, die Wissenschaft hat geliefert, wir haben die Evidenz und wissen, welche Maßnahmen in dieser Pandemie wirkungsvoll sind. Welche Maßnahmen sind das nun, im Herbst 2022?
HANS-PETER HUTTER: Wir haben in den letzten drei Jahren viel gelernt, über 300.000 wissenschaftliche Arbeiten wurden veröffentlicht. Die Erkenntnisse wurden der Politik und auch der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Seit fast zwei Jahren wissen wir, was wir zu tun haben. Und das ist: den Immunschutz der Bevölkerung über möglichst hohe Durchimpfungsrate zu erreichen. Und durch die sogenannten nicht pharmakologischen Maßnahmen: Maske tragen, Hände waschen, Abstand halten – um das Risiko zu reduzieren, sich über Tröpfchen oder Aerosole anzustecken. Das ist alles nicht neu. Neu ist, dass es immer mehr Evidenz zur Wirksamkeit dieser Maßnahmen gibt. Doch durch die sogenannte "Infodemie" in sozialen Medien werden viele nützliche Erkenntnisse, die dem Gesundheitsschutz dienen, in Zweifel gezogen.

Was meinen Sie mit "Infodemie"?
Desinformation und Falschinformation breiten sich – vor allem – in den sozialen Netzen aus. Diese Netzwerke unterliegen keiner Kontrolle und es findet keine Rückkopplung statt, wenn sich Informationen als falsch, ja verrückt, um nicht zu sagen vertrottelt, erwiesen haben.

Die Diskussion um die Masken bzw. die Maskenpflicht ist ein gutes Beispiel. Es ist mehr ein Glaubenskrieg, denn eine Abwägung von Kosten und Nutzen dieser Maßnahme. Sehen Sie die sozialen Medien hier als tonangebenden Faktor?
Ja, definitiv. Diese sind wohl die Kanäle, über die sich die Ablehnung der Maskenpflicht ausbreiten. Maske ist mittlerweile für einen Teil der Bevölkerung ein Reizwort, bei dem die Vernunft aussetzt. Tempolimit ist ein anderes, ebenso der Vorschlag, einen Tag pro Woche einmal kein Fleisch zu essen. Es scheint, dass hinsichtlich der Frage des Infektionsschutzes die Wahrnehmung verzerrt ist und die Politik einem Druck ausgesetzt wird, der nicht der Mehrheitsmeinung entspricht. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung – rund 60 Prozent – kein Problem mit der Maske hat und diese als sinnvoll ansieht. Doch es ist eine schweigende Mehrheit. Laut hingegen ist die Minderheit, die die Maske als Knebel oder Gehorsamsfetzen oder was auch immer bezeichnet. Daran kann man auch ablesen, auf welchem Niveau hier Stimmung gemacht wird – fernab von jeglichem lösungsorientierten Austausch. Es ist eine einfache, wirksame Maßnahme, die aus meiner Sicht zumutbar ist. Es geht hier um Public Health und Public Health wägt bestimmte Risiken ab. Die Politik macht dann daraus, was sie für notwendig erachtet.

Wieso tun wir uns als Gesellschaft im dritten Jahr der Pandemie mit den Maßnahmen so schwer – und wieso tut sich die Politik mit der Kommunikation so schwer?
Während der ersten Wochen hat die Bevölkerung noch solidarisch und weitgehend konform den Anweisungen und Empfehlungen reagiert, aber es liegt in der Natur der Sache, dass, je länger etwas dauert, es umso mühsamer wird, Einschränkungen zu akzeptieren. Es bräuchte eine konsequente und konsistente Kommunikation – und keine schwankende seitens der Politik. Das ist praktisch nicht gelungen. Der ständige Zickzack-Kurs hat dazu geführt, dass die Politik immer weniger glaubwürdig wirkte. Der Todesstoß in dieser Hinsicht war wohl die Einführung der Impfpflicht. Und ähnlich wie auch bei der Klimakrise haben hier auch soziale Medien einen großen Anteil zu der aufgeheizten Stimmung beigetragen. Wir haben es kaum geschafft, eine Balance zwischen Lockdown und "Alles frei laufen lassen" zu halten. Aber das kennen wir leider auch aus anderen Bereichen der Umweltmedizin, wo selten das umgesetzt wird, was wissenschaftlich gesehen sinnvoll wäre.

Wie kann man den Menschen noch zum Impfen bewegen, was müsste eine Impfkampagne beinhalten?
Ich denke, die eingefleischten Hardliner unter den Impfskeptikern wird man nicht mehr erreichen. Jetzt geht es darum, dass man speziell junge Menschen, die ein sehr aktives Sozialleben mit vielen Kontakten haben, erreicht. Hier gibt es große Lücken und zwar schon in der Grundimmunisierung (drei Dosen, Anm.). Es braucht daher eine Kampagne, die diese Menschen abholt und anspricht. Wenn wir diese Impflücken schließen, würden wir deutlich schwerer in ein Fahrwasser geraten, das immer wieder das Risiko birgt, dass unser Gesundheitssystem überlastet ist, dass Arbeitskräfte in Schlüsselpositionen ausfallen. Das ist für viele Familien und Betriebe ein ständiger Stressfaktor, den wir ohne großen Aufwand entschärfen könnten.

Aus Ihrer Public-Health-Perspektive: Welche Daten sind aktuell verlässlich, um die Situation zu beurteilen?
Verlässlich sind die Daten zur Impfung und zur Hospitalisierung. Auch die Daten zu den Todesfällen gehören dazu. Bei den Daten zur Inzidenz muss man berücksichtigen, dass nur jene Fälle erkannt werden können, bei denen ein Test durchgeführt wird. Diese Informationen reichen längst nicht mehr. Wir benötigen fallbezogene Daten zu den Erkrankungs- und Krankenhausfällen, die frühere Infektionen und Impfungen beinhalten und die unerlässlich sind, um für Österreich die Effektivität der Maßnahmen ermitteln zu können. Es geht darum, rechtzeitig medizinische Empfehlungen zu formulieren und Entscheidungen vorzubereiten. Das ist auf Basis der bestehenden Datengrundlage oft nicht in der von uns gewünschten Form möglich. Wir benötigen viele Details zu jedem einzelnen Fall, nicht nur zu den Impfungen und früheren Infektionen, sondern auch zu Vorerkrankungen und den Krankheitsverläufen. Argumentiert wird mit dem Datenschutz. Mit diesem Problem haben wir seit Beginn der Pandemie zu tun. 

Immer wieder kommt die Frage, ob Patientinnen "mit oder wegen Covid" im Spital liegen. Ist diese Unterscheidung notwendig und relevant?
Zur Präzision von Überlegungen ist es relevant, für den Spitalsalltag wohl weniger. Wenn bei Patienten mit einer Fraktur nach einem Unfall eine Infektion zufällig festgestellt wird, muss man im Spital handeln und die entsprechenden Maßnahmen einleiten. Der Versorgungsaufwand für das Gesundheitspersonal ist erheblich größer – Stichwort strikte Einhaltung von Hygienemaßnahmen. Das ist für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anstrengend. Nur kümmert das oft die Bevölkerung nicht, wenn man sich das Getue rund um das Tragen von Masken oder die Impfung vor Augen führt. Vielen Menschen ist, solange sie nicht selbst betroffen sind, alles egal. Aus epidemiologischer Sicht ist die Unterscheidung dann relevant, wenn es darum geht, Schweregrade der Erkrankung zu ermitteln. Da machen wir den Unterschied, denn ein mit einer Infektion im Spital liegender Patient muss nicht schwer an der Infektion erkrankt sein. Deswegen benötigen wir die individuellen Daten zum Krankheitsverlauf.

Können wir diesem Egoismus, der ja auch im Kampf gegen die Klimakatastrophe sichtbar wird, etwas entgegensetzen?
Es gab auch schon vor der Pandemie wenig Solidarität in unserer Gesellschaft. Und zur Klimakrise – da höre ich auch immer wieder: Wieso soll Österreich anfangen, sollen doch einmal die anderen etwas machen, unser CO2-Ausstoß ist im Verhältnis ohnehin so gering. Im Grunde ist es nichts als Bequemlichkeit, eine "Ich Pfeif-auf-die-anderen-Mentalität". Hier gilt es zu unterstreichen, dass wir, gerade weil wir ein kleines und reiches Land sind, beispielgebend sein können. Ein umsichtiger Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen ist für ein Tourismusland auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft, zusätzlich beeinflusst er die Gesundheit positiv und führt zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Aber dazu sind auch Änderungen im eigenen Verhalten nötig, insbesondere aber wirksame politische Hebel, die dem Klimaschutz und dem Schutz der Umwelt endlich die nötige Priorität verschaffen. Hier fehlt es an Konsequenz. Es muss uns klar sein, dass es nicht ohne gewisse, sicher aber nicht unzumutbare Einschränkungen für jeden geht. Diese Solidarität mit den Meistbetroffenen, aber auch mit zukünftigen Generationen, wollen viele nicht aufbringen. Das war vor der Pandemie schon so und tritt nun deutlicher zutage – Stichwort 19 Grad Raumtemperatur. Wie man da gegensteuern kann? Ich denke, es geht nur, in dem Engagement und Solidarität unterstützt und belohnt werden.

Wenn wir den Kreis zur Pandemie schließen: Auch der Klimawandel hat massive Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. Doch dieses ist schon jetzt am Limit.
Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. Aber während der Pandemie haben wir gesehen, dass wir auch das binnen kürzester Zeit an die Wand fahren können. Wir haben schon jetzt Herausforderungen im Spital, die direkte oder indirekte Folgen der Klimakrise sind. Nicht nur durch Hitzebelastung im Sommer, sondern etwa durch Überschwemmungen, Vermurungen und andere Katastrophen. Dazu kommen schleichende Veränderungen wie die Ausbreitung von Krankheitserregern, die Ausbreitung von Allergieauslösern und und und. Die Belastungen des Gesundheitssystems werden jedenfalls zunehmen. Und was wir auch nicht außer Acht lassen dürfen: Auch die Gesundheitseinrichtungen selbst tragen zur Klimakrise durch ihre Emissionen bei und müssen Überlegungen anstellen, wie sie ihre Emissionen senken können. Zusammengenommen sind alle Gesundheitssysteme weltweit der fünftgrößte Staat – gemessen an den CO2-Emissionen. Um nicht nur die negativen Seiten hervorzuheben, möchte ich die steiermärkischen Krankenanstalten hervorheben, die seit mehr als 20 Jahren zum Klimaschutz Maßnahmen ergreifen.

Was bedeutet denn für Sie mit dem Virus leben (lernen)?
Ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Satz immer dann fällt, wenn es um die Begründung der Nichteinführung von ein paar Maßnahmen geht: Wir müssen mit dem Virus leben lernen, deshalb brauchen wir auch keine Maßnahmen mehr. Kaum zu glauben, aber wir leben seit Anfang 2020 mit diesem Virus und nicht erst seit jetzt. Wir werden auch weiterhin – und wer weiß wie lange – damit leben müssen. Es geht also darum, was man unter "mit dem Virus leben" versteht. Und ich verstehe darunter, dass wir in eine Balance kommen, wo wir mithilfe von flankierenden Maßnahmen ein soziales, gesellschaftliches Leben führen, so wie wir uns das vorstellen. Mit stets geöffneten Bildungseinrichtungen, Kinos, Theatern oder Lokalen. Wir wissen jetzt, das ist keine Selbstverständlichkeit. Um das zu garantieren, sind noch immer einige wenige Begleitmaßnahmen wesentlich. Der Schlüssel ist eben die konsequente Impfung und unter gewissen Umständen die Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen. Aber wenn eine nicht wirklich kleine Gruppe sich konsequent weigert, sich impfen zu lassen oder auch nur die einfachsten Maßnahmen mitzutragen, und lieber weiter Verschwörungstheorien verbreitet, wird es schwierig. Denn genau mit diesem Verhalten verhindern sie das, was sie lautstark einfordert, nämlich dass wir unser "normales" Leben zurückbekommen.

Das bedeutet, in Sachen Vorbeugung muss die Lernkurve steiler werden?
Ja, absolut. Es wäre notwendig, dass wir vorher etwas tun, um zu verhindern, dass etwas eintritt, was wir nicht wollen, was unser Leben einschränkt, unsere Gesundheit gefährdet. Wenn wir nämlich vorbeugend handeln, müssen die Maßnahmen auch nicht so massiv sein. Wir haben als Gesellschaft nicht gelernt, was Vorsorge bedeutet. Der Kern der Vorsorge liegt ja darin, dass man agiert, bevor das unerwünschte Ereignis eintritt. Aber leider reagieren wir erst dann, wenn alles drunter und drüber geht. Und das ist kein gutes Zeichen, egal für welche Krise. Wir sind nur dem biologischen Artbegriff nach Homo sapiens, der vernünftige Mensch!