Als Ralf Lengen fünf Jahre alt war, gab seine Mutter eine Annonce in der Zeitung auf. Dort war zu lesen: „Welche kinderliebe Frau oder welches Ehepaar nimmt 5-jährigen Jungen in Pflege?“ Ralf Lengen war damals das jüngste von drei Kindern. Seine Mutter war alleinerziehend und beschloss aus Überforderung, eines der Kinder vorübergehend in Pflege zu geben. Mehrere Familien meldeten sich und schließlich wurde eine ausgewählt. Vorübergehend blieb die Situation aber nicht – Ralf Lengen blieb bei seiner neuen Familie.

Die Frage, warum gerade er der war, der seine ursprüngliche Familie verlassen musste, stellte sich der heute 54-Jährige damals nicht: „Das habe ich nicht an mich herangelassen. Erst heute, wenn ich mich da hineinfühle, werde ich neidisch und denke mir: ,Meine Geschwister durften bei meiner Mutter bleiben und ich nicht.’“

Die Anzeige in der Nordwest-Zeitung im Juli 1973, mit der Ralf Lengens Mutter Pflegeeltern für ihn suchte
Die Anzeige in der Nordwest-Zeitung im Juli 1973, mit der Ralf Lengens Mutter Pflegeeltern für ihn suchte © KK

Das Verhältnis zu seinen neuen Eltern war gut. Als Außenseiter oder Fremdkörper fühlte sich Ralf Lengen in dieser Familie nie: „Wobei die Beziehung zu meinem Vater deutlich besser war, als zu meiner Mutter. Ich habe erst im Zuge meiner Recherchen erfahren, dass bei vielen Pflege- und Adoptivkindern die Beziehung zur Mutter schwieriger ist – und zwar deswegen, weil die Wut auf die erste Mutter, häufig auf die Adoptiv- oder Pflegemutter übertragen wird.“

Was von Beginn an da war und nicht mehr weggeht, ist Verlustangst: „Es gibt dieses Gefühl, dass, wenn ich eine tiefere Beziehung eingehe, es wieder passieren kann, dass ich verlassen werde. Ich bin heute ein erwachsener Mann und trotzdem denke ich, dass ich funktionieren muss, um nicht von meinen Eltern fallengelassen zu werden.“

Ein Schmerz, der bleibt

Denn worauf Lengens Meinung nach zu wenig geachtet wird, ist, dass Adoption und Pflege ein Trauma sein können: „Man soll glücklich und zufrieden sein, dass man aufgenommen wurde. Aber daneben gibt es auch den Aspekt, dass man weggegeben wurde.“ Das Paradoxe dieser Situation zeige sich besonders deutlich am Tag, an dem das Kind zu seinen neuen Eltern kommt: „Für diese ist es ein Tag der Freude, für das Kind ein Tag des Schmerzes.“

Darum sei es auch oft so, dass die Pflege- oder Adoptiveltern nichts mit dem Schmerz des Kindes zu tun haben wollen – „weil sie diesen als Angriff auf sich selbst verstehen.“ Doch beide Dinge existieren oft parallel nebeneinander: die Trauer über das Verlorene und die Freude über das Gewonnene.

Links: Ralf Lengen im Alter von fünf Jahren. Damals kam er zu einer neuen Familie Rechts: Ralf Lengen heute
Links: Ralf Lengen im Alter von fünf Jahren. Damals kam er zu einer neuen Familie Rechts: Ralf Lengen heute © KK

Ralf Lengen selbst besuchte als Kind noch lange seine erste Mutter. Bis er mit 14 Jahren beschloss, den Kontakt abzubrechen. Als er schließlich 18 Jahre alt war – und durch die Volljährigkeit frei über eine Adoption entscheiden konnte – ließ er sich von seinen Pflegeeltern adoptieren. Heute hat er wieder Kontakt zu seiner ersten Mutter und setzt sich dafür ein, dass die Perspektive von Kindern bei Adoptionen verstärkt in den Fokus rückt.

Eltern, die Kinder aufgenommen haben, rät er: „Würdigt die Herkunftsfamilie des Kindes. Oft wird diese als Konkurrenz gesehen. Wenn das Kind sich irgendwann aufmacht, um seine ersten Eltern zu suchen, sollte man das nicht als Angriff auf die eigene Person verstehen. Das Interesse an den eigenen Wurzeln hat nichts mit der Beziehung zu den Adoptiv- oder Pflegeeltern zu tun.“

Und die Adoptierten selbst? Lengens Erfahrung nach ist es wichtig, sich dem Schmerz zu stellen: „Verdrängung hilft nur kurzfristig, man muss das Trauma verarbeiten und sich dafür im besten Fall professionelle Hilfe holen.“ Denn Adoption wird wohl immer ein Paradoxon bleiben, bei dem Schmerz und Glück, Ablehnung und Aufnahme nebeneinander existieren.