Manchmal denke ich: „Das muss großartig sein!“ Nicht mehr für so und so viele Personen das Geld verdienen zu müssen. Nicht mehr Unmengen an Essen zu kaufen. Nie mehr ohne Unterlass hierhin und dahin fahren zu müssen. Oder dies und das mitzudenken und zu planen. Es muss fantastisch sein, eine Aufgabe ohne Unterbrechung zu Ende zu führen. Einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich sehe mich in einem strohbedeckten Häuschen im Grünen leben, bald, allzu bald. Vielleicht habe ich zwei Hunde. Zwei Pferde. Ein Gemüsegärtchen. Über allem anderen aber habe ich: Frieden. Stille. Zeit. Und dann wird mir die Kehle eng, das Herz rast, das Atmen fällt mir schwer, und ich denke: „Hilfe, wie soll ich das überleben!“ Wenn auch das letzte Kind definitiv kein Kind mehr ist und nicht nur das Haus, das ginge ja noch, sondern vor allem auch mich verlässt!

Man liest ja immer wieder, wie sehr das selbst zwei Leute trifft: Elternpaare, die von heute auf morgen keine Eltern und Paare mehr sind. Nicht mehr in dem ihnen so lange vertrauten Sinne. Die sich nichts mehr zu sagen haben, solange es nicht etwas über die und bezüglich der Kinder ist, und darum fortan in schönster Zu-zweit-Einsamkeit auf ihrem Sofa seelisch verdorren. Was soll ich dann erst sagen (oder eben nicht)? Und zu wem? Ich bin seit insgesamt 34 Jahren Mutter – erst von einem, dann kontinuierlich von mehr Kindern. Seit fünfzehn Jahren alleinerziehend – erst von sechs, dann von kontinuierlich weniger Kindern. Zwei sind noch da. Für wie lange?

Der Anfang vom Ende

Zuerst, vor vierzehn und zwölf Jahren, zogen meine ältesten Söhne aus. Dann, vor neun Jahren, meine älteste Tochter. Das war, auch wenn’s Tränen (von mir) gab, alles noch irgendwie zu verkraften. Vielleicht, weil sie in der Nähe blieben. Oder: Weil ich noch nicht ganz kapiert hatte, dass das jetzt immer so weitergeht. Es also der Anfang vom Ende war. Dann passierte etwas: Meine Zweitälteste wurde selbst Mutter. Und fürs Erste kam der Kinderexodus nicht nur zu einem Halt. Es war sogar wieder ein Kind mehr im Haus. Die Dynamik zwischen uns Hinterbliebenen verschob sich. Mehr, wie soll man sagen, ins gereifte Kommunale. Das war toll. Es verleitete nur (kurzfristig) zu dem Gefühl, unser Leben ginge jetzt immer so und gut weiter. Bis im vergangenen September auch mein jüngster Sohn auszog, nach England, um zu studieren.

Im Vorjahr war es um ein Haar schon mal so weit gewesen. Mein Sohn hatte den Studienplatz seiner Wahl ergattert, Biochemie an der Uni in Nottingham. Er war überglücklich. Suchte und fand ein Zimmer, bezahlte die Maklergebühren und die Kaution. Wir kauften jeder ein Ticket, er eins für hin, ich eins für hin und zurück. An einem Samstag früh um sieben Uhr flogen wir los. Am Montagabend spät, dem Tag, an dem er sich hätte einschreiben und sein Studentenleben hätte beginnen sollen, kehrten wir zusammen zurück. Was war geschehen? Nicht viel.

Der Stadtkoller

Mein Kind, das seine Vorschulzeit mit den fünf Familienhunden in einer Höhle im Garten verbracht hatte, weil der Kindergarten, so erklärte er es damals seiner älteren Schwester, der Anfang allen Übels war („Denn nach dem Kindergarten musst du in die Schule. Und danach musst du arbeiten, arbeiten, arbeiten! Nein, das fang ich gar nicht erst an!“), das seine beiden letzten Schuljahre allein zu Hause studiert hatte und nur zu den Examen zurück in die Schule gegangen war, das niemals mit zum Einkaufen oder sonst wohin fuhr, weil es den Trubel der Stadt und das Sonstwohin generell verabscheute, hatte gleich am Samstagmittag bei unserem ersten Gang durch Nottingham einen Stadtkoller erlitten. Vielleicht war es auch ein Menschenkoller, ganz direkt. Er wollte nur noch weg. Legte sich in das Zimmer, das ich mir für die zwei Nächte gemietet hatte, kroch in die Höhle unter der Bettdecke und kam lange nicht wieder hervor. Er schlief achtzehn Stunden am Stück. Derweil telefonierte ich panisch mit seinen Geschwistern. Mit denen, die schon ausgezogen waren, und denen, die noch zu Hause waren. Was tun? Das wussten wir alle nicht.

Noch einmal davongekommen

Und ich? Wollte natürlich, dass mein Sohn in Nottingham blieb. Nicht nur, weil ich wusste, dass ich es wollen musste. Ich wollte, dass er tat, wofür er sich die letzten beiden Jahre in seinem Zimmer erfolgreich geschunden und worauf er sich – solange es nicht eingetreten war – wie ein Wilder gefreut hatte. Ich wollte, dass er, hier und jetzt, sein Leben begann. („Und danach musst du arbeiten, arbeiten, arbeiten!“) Ich wollte, ganz pauschal, dass er glücklich war. Allein, er war nicht zum Glücklichsein zu bewegen. Nicht auf die vorgeschriebene Art. Als wir am nächsten Abend, wieder zu Hause, im Garten den tollenden Hunden zusahen, atmete er tief und sagte: „Bin ich froh!“ Und ich fühlte mich unerhört. Wie noch einmal davongekommen. Aber natürlich wussten wir beide, dass diese Art von Glück nicht auf ewig aufrechtzuerhalten war. „Nächstes Jahr“, sagte mein Sohn. „Aber nicht Bio-chemie. Und nicht in Nottingham.“

Nottingham ist ein eher beschauliches Städtchen in der Mitte Englands. Nicht wirklich groß, mit viel Grün und prächtigen alten Gebäuden. Das Uni-Gelände gleicht einem Park. Nottingham ist eine Stadt, in die man getrost ziehen kann, wenn man, eigentlich, mehr das Leben mit Hunden in Höhlen liebt. Will sagen: für Stadtanfänger ideal. Im Jahr nach Nottingham ergatterte mein Sohn den Studienplatz seiner neuesten Wahl: Chemie. In Manchester, einer der größten Städte im Vereinigten Königreich. Und im kalten, grauen Norden.

Ein Flug ins Nirgendwo

Wir buchten, wie gehabt, zwei Tickets. Seins hin. Meins hin und zurück. Das Zimmer, das auf den Bildern im Internet ganz akzeptabel ausgesehen und für das er, noch aus der Ferne, einen Mietvertrag unterschrieben hatte, war eine Höhle. Nur leider nicht eine der behaglichen Art. Wasser suppte durch Decke und Wände. Schimmel flockte pelzig und blauschwarz in den Ecken. Ich telefonierte panisch mit den Geschwistern. Diesmal flog ich allein zurück. Nach seinem und – mehr oder weniger – meinem Willen. Was war geschehen? Nicht viel. Es war wohl einfach nur an der Zeit.
Es war ein leerer, einsamer Flug. Und es ging, gefühlsmäßig, nicht nach Hause, nicht wirklich. Es ging nur „zurück“. Wie ein Flug ins Nirgendwo. Ei
gentlich nicht zu ertragen. Und ich dachte: „Sei nicht doof! Zu Hause warten doch die Mädchen!“ Meine Töchter und meine Enkeltochter. Das war tröstlich. Und zugleich furchterregend, aus gutem Grund.

Am Flughafen-Parkautomaten vor der Schranke konnte ich meinen Parkschein nicht finden. Ich musste ihn auf dem Weg vom Flughafengebäude zum Auto verloren haben. Ich ging den Weg zurück, hin und her, suchte den Parkplatz ab, zwischen und unter parkenden Autos. Ich suchte viel länger, als mein Suchen Sinn ergeben hätte. Es war ein grauer, windiger Tag und kein Parkschein nirgendwo. Ich stand auf dem elenden Parkplatz, in dem Grau und dem Wind und fühlte mich so verloren wie der Parkschein, mindestens. Am Kundendienstschalter im Flughafengebäude brach ich endlich in Tränen aus. Die Schalterdame rief erschrocken: „Aber, aber, Schätzchen, ein verlorener Parkschein ist doch kein Grund zum Weinen! Das können wir doch leicht regeln.“ Ich schluchzte: „Danke.“ Und ich stellte mir vor, dass sie noch nie, nie, niemals zuvor in ihrem Schalterdamen-Leben so froh war, durch eine Scheibe von ihren Kunden getrennt zu sein.

Nur noch Männerhunde

Zu Hause warteten meine Töchter. Hatten ein prima Essen gekocht. Den Tisch gedeckt. Mit Blumen, Kerzen, mit allem Drum und Dran. Nur meine Enkelin weinte ein bisschen. Weil sie ihren Onkel vermisste. „Ich will ihn zurück!“, rief sie. Und ich dachte: „Dito!“ Obwohl ich doch schon fünfzig, nicht erst fünf Jahre alt war. „Jetzt ist gar kein Mann mehr in diesem Haus“, brummte das Kind. „Nur noch Hundemänner!“ Wir lachten. Und vielleicht war das ein Grund, warum es diesmal so verflucht viel schwerer war. Aber ich glaube nicht. Nicht wirklich. Es hatte einfach nur (wieder) etwas begonnen. Etwas, das unaufhaltbar, das unumkehrbar ist. Und das mit dem Tag enden wird, an dem ich zurückkehre und niemand wartet. Soll mir keiner erzählen, dass das großartig, die reine Freude sein wird!