Passt ihr eine Situation nicht, schlägt sie dem Gegenüber ohne Vorwarnung ins Gesicht. Schmeckt ihr das Essen nicht, spuckt sie es aus. Eigentlich logisch. Doch das Verhalten von Bella Baxter irritiert. Ihr exzentrischer Forscher und Ziehvater Godwin „God“ Baxter beobachtet und notiert jede ihrer Reaktionen akribisch. Denn: In der dunklen Frankenstein-Fabel „Poor Things“ ist dieses Frauengeschöpf eine Gerettete. Nach einem Suizidversuch zieht God Bella aus dem Wasser, flickt sie zusammen, reaniminiert sie und implantiert ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes. Fertig ist das Experiment!

Bella Baxter muss alles erst lernen: das Reden, das Laufen, das Essen, das Lesen, das Ballspielen. Hollywoodstar Emma Stone, frisch geadelt mit einem Golden Globe, stakst spektakulär ungelenk mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund durch das wundersame Haus voller Möpse mit Hühnerbeinen und anderen Chimären des Forschers; furios verkörpert von Willem Dafoe. Und hier, hinter dicken Mauern in einem Londoner Haus im Jahr 1882, kommt die bizarre Wundermaschine des griechischen Meisterregisseurs Giorgos Lanthimos in Fahrt: Magensäureblasen steigen auf, die Kutsche ziert ein Pferdekopf als Galionsfigur und Weitwinkelaufnahmen betören; ebenso wie die wunderschön verrückte Musik von Jerskin Fendrix.

Lanthimos krönt seine Karriere nach Geniestreichen wie „Dogtooth“, „The Lobster“ oder „The Favourite“ mit diesem schamlosen Wahnsinn von einem Film. Inhaltlich knüpft die schwarze Komödie an den Kinohit des Jahres 2023 – „Barbie“ – an: Auch in „Poor Things“ lernt ein Frauengeschöpf, sich zu emanzipieren, und warum das im Patriarchat überhaupt vonnöten ist. Bella entdeckt die Welt; mit allen Sonnen- und Schattenseiten. Und ihre Sexualität. Von wegen armes Ding! Ein Höhepunkt jagt den nächsten. Die Regie hat keine Scheu vor Sexszenen.

Je emanzipierter Bella wird, desto stärker versucht God sie zu kontrollieren. Nicht mit ihr. Sie brennt mit dem windigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch. Als er über sie bestimmen will, verlässt sie auch ihn, fängt als Sexarbeiterin in einem Bordell an und wird von den Freiern erniedrigt, ausgebeutet und brutal behandelt. Ist sie nur eine Männerphantasie? Sicher nicht!

Hanna Schygulla erklärt ihr in einem grandiosen Mini-Auftritt, wie sie ihren Intellekt und ihren Feminismus schärft. Auf die Stimulation der Sexualität folgt jene des Intellekts. Bella Baxter studiert. Sie übernimmt den Job von God. Auf eine Kinogöttin wie sie hat die Welt gewartet. Als Appell an die Unerschrockenheit. Darauf einen Gin Martini mit Ziege! ●●●●●