In einem neuen Zeitalter der Geschichten übernimmt das Milliardenunternehmen aus Los Gatos die Rolle des Universalerzählers – und zu erzählen gibt es augenscheinlich viel. Im Schnitt hat Netflix 2019 jeden Tag mindestens einen neuen Film oder eine neue Serie auf den Markt gebracht. 2020 werden es nicht weniger Produktionen sein. Zugleich entsteht die narrative Meterware in immer mehr Studios: Im November dieses Jahres wurde die bisherige Ordnung im Streamingmarkt durch den Einstieg der finanzkräftigen Unternehmungen Disney+ und Apple TV infrage gestellt. Die verschärfte Konkurrenzsituation beschreibt womöglich eine Schlüsselposition im neuen Kapitel des modernen Geschichtenerzählens: Die Karten werden neu gemischt, der Einsatz regelmäßig erhöht. Der Begriff „Streaming Wars“ ist in diesem Zusammenhang nicht bloß eine billige sprachliche Anleihe am nunmehrigen Disney-Blockbuster „Star Wars“. Es gelten die Regeln des körperlichen Zweikampfes: Wer am Ende der Schlacht noch steht, hat gewonnen.

Tatsächlich ähnelt die aktuelle Entwicklung einer kämpferischen Goldgräberstimmung. Gesucht wird jedoch nicht das edle Metall, jedenfalls nicht im direkten Sinn, sondern das nächste „große Ding“ und damit ein Nachfolger von „Game of Thrones“, dieser kolossalen Erzählung, basierend auf den Büchern von George R. R. Martin, und gekrönt mit 58 Emmy Awards. Mit der 73. und letzten Episode endete im Mai dieses kompromisslos kraftvolle Stück Fernsehgeschichte. Ging es in der gleichermaßen archaischen wie komplexen HBO-Fantasy-Serie oft ums blanke Überleben, gibt sich die Streamingbranche bescheidener: Lebenszeit heißt das teure Gut, um das Netflix, Prime und die anderen Marktteilnehmer wettstreiten.

Die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit ist eine Materialschlacht: Laut „Variety“ produzierte allein Netflix 2019 mehr Neuproduktionen als der gesamte US-Fernsehmarkt im Jahr 2005. Eine gigantische Geschichten-Maschine – dieser Tage auch Contentmaschine genannt –, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nicht gab. Für die Kunden ist das vorerst eine vorteilhafte Situation mit großem Angebot und konkurrenzbedingt niedrigen Abopreisen. Allerdings droht mit der höheren Zahl an Anbietern auch eine Filetierung des Angebots einherzugehen. Die drohende Unübersichtlichkeit und Notwendigkeit mehrerer Bezahl-Abos bietet linearen, klug kuratierten Sendern womöglich die Chance zum großen Comeback. Nein, die große Geschichte ist nicht tot. Allenfalls wird sie gerade zu Tode geritten von einer gnadenlosen Produktionswut, die die Qualitätsansprüche herausfordert. Die Folgen sind nicht absehbar: Kritiker orten regelmäßig einen erzählerischen Erschöpfungszustand, eine die Originalität tötende Überhitzung des Marktes. Durch Zahlen fundieren lässt sich diese Einschätzung nicht.

Ein Kampf um die Dollars, sagt der Buchhalter. Einen Wettstreit um die schönste Erzählung ortet hingegen der Romantiker. Womöglich wird es einigen einmal ähnlich ergehen wie manchem Fan von „Game of Thrones“: Man hätte sich ein anderes Ende gewünscht.

Daniel Hadler