Harmlos ist in Zeiten allumfassender Politisierung nichts mehr: Gerade noch hat man den weihnachtlichen Evergreen „Baby, It’s Cold Outside“ lauthals mitgekräht, schon muss man in einer hitzig geführten Diskussion dazu eine informierte Meinung haben.

Kurzer Rückblick: In dem jazzigen Duett versucht ein Mann eine Frau am Ende eines gemeinsamen Abends zum Bleiben zu überreden – es sei kalt draußen, der Schnee kniehoch, ein Blizzard am Wüten, sie könnte sich eine Lungenentzündung holen und sterben – während sie ins Treffen führt, dass Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Nachbarn und sogar die jüngferliche Tante durch ihr langes Ausbleiben sicher bereits misstrauisch seien, und dann doch auf eine Zigarette und ein Gläschen bleibt.

Dass in dem Song insinuiert wird, dass Frauen ja doch immer „Ja“ meinen, wenn sie „Nein“ sagen, entzweite Fans und Gegner des Songs seit Jahren. Heuer ist nun über die Textzeile „Say, what’s in this drink?“ (Sag, was ist in diesem Getränk?) in den USA eine echte Kontroverse entflammt; Radiostationen haben den Song aus dem Weihnachtsprogramm genommen, weil die Zeile mittlerweile nicht mehr als Erkundigung nach dem Alkoholgehalt, sondern als unzulässige Verharmlosung von „Date Rape“ gesehen wird, der Vergewaltigung nach heimlicher Verabreichung von K.o.-Tropfen.

So ändern sich die Zeiten: US-Komponist Frank Loesser hatte „Baby, It’s Cold Outside“ 1944 für sich und seine Frau Lynn Garland geschrieben – als „Party Piece“ bei privaten Abendunterhaltungen. Erst nach ihrer Scheidung 1948 verkaufte Loesser das Lied ans Hollywoodstudio MGM; Esther Williams und Ricardo Montalbán sangen es in der romantischen Komödie „Neptune’s Daughter“, 1949 gab es dafür den Oscar als bester Song.

Jahrzehntelang fand sich „Baby, It’s Cold Outside“ danach, obwohl ohne dezidierten festlichen Bezug, als Fixgröße auf den Weihnachtsalben großer Entertainer. Ella Fitzgerald und Louis Jordan nahmen es auf, Louis Armstrong und Velma Middleton, Sammy Davis jr. und Carmen MacRae, Ray Charles und Betty Carter, Rod Stewart und Dolly Parton, erst 2013 Lady Gaga und Joseph Gordon-Levitt - mit neu verteilten Rollen.

Vergewaltigungsprozess und Verurteilung von TV-Komiker Bill Cosby, glaubt Loessers Tochter nun, habe den unschuldigen Song mit in Ungnade gerissen. Andere Verteidiger weisen auf eine andere mögliche Lesart hin: dass Argumente wie man sei zu betrunken zum Fahren und das Wetter zu kalt zum Zufußgehen gewesen, Frauen in rigideren Zeiten dazu dienten, gesellschaftliche Konvention in puncto Sittsamkeit zu umgehen.

Humorvoller wird die Geschlechterdiskussion derzeit ohnehin anhand eines anderen Weihnachtspopklassikers geführt: Eine Neuversion von Eartha Kitts Hit „Santa Baby“ bescherte Miley Cyrus bis gestern Abend fast 4,5 Millionen Klicks auf Youtube. Schmachtete Kitt 1953 im Original den Weihnachtsmann um Pelze, Aktien, Schmuck, ein Auto, eine Yacht etc. an, wünschte sich Miley Cyrus nun in einem witzigen TV-Auftritt in der „Tonight Show“ von Santa Claus statt teurer Gaben („Ich kaufe mir mein eigenes blödes Zeug!“) Lohngleichheit sowie ein Ende sexueller Belästigungen und Anzüglichkeiten gegen Frauen.

An beiden Beispielen zeigt sich zumindest eines: dass in Zeiten politischer Polarisierung offenbar sogar das an treuherziger Belanglosigkeit kaum zu übertreffende Genre Weihnachts-pop neu verhandelt werden muss. Das liegt mit am Alter der meisten Weihnachts-Popsongs – deren Hochzeit fiel mit Säkularisierung und aufkommender Konsumkultur nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen: Als in der Populärkultur spirituelle Weihnachtshymnen durch saisonale Hits abgelöst wurden, in denen unter Schellenklang rund um den Weihnachtsbaum gerockt und durchs Winterwunderland promeniert wurde; in denen es um romantische Erfüllung, Sehnsucht nach Geborgenheit und reichlich bestückte Geschenketafeln ging.

Dass die damals auch im Liedgut herrschenden Geschlechterverhältnisse heutige Realitäten nicht mehr abbilden und entsprechend vehement infrage gestellt werden, muss da weniger verwundern als der Umstand, dass der Weihnachtspop-Kanon seit Jahrzehnten kaum Neuzugänge verzeichnet. Von Bob Dylan bis Justin Bieber nehmen umsatzinteressierte Künstler die immer gleichen Evergreens auf. Ein Mal „Little Drummer Boy“ geht immer noch; man gibt dem Publikum, was es braucht.

Und das neigt zu Weihnachten mehr denn je zu Rückwärtsgewandtheit und Verklärung des Bewährten: Der letzte weihnachtliche Pop-Neuzugang mit Langzeitwirkung, Mariah Careys „All I Want for Christmas Is You“, derzeit wieder auf Platz 2 der heimischen Single-Charts, ist immerhin auch schon 1994 erstveröffentlicht worden. Wham!s ewiger Heuler „Last Christmas“ (Platz 5) stammt aus dem Jahr 1984, Chris Reas „Driving Home for Christmas“ (Platz 16) auch von 1988.

Aber vielleicht sind ja die Streitereien dieser Feiertage der Auslöser für einen längst überfälligen Schub an frischeren Weihnachtshits. Sonst bleibt als Trost: Spätestens ab übermorgen, 26. Dezember, ist es bei den meisten Radiostationen mit dem Weihnachtspop wieder für ein Jahr vorbei.