Sie waren Frischfleisch, mitunter vom eigenen Vater verkauft. Wie die mit 16 Jahren aus dem Elternhaus geflüchtete Arbeitertochter Marie König (dargestellt von Alice Prosser), die an der Praterstraße angesprochen und in das Bordell der Regine Riehl (Maria Hofstätter) gelockt wurde. Statt dem versprochenen selbstbestimmten Reichtum erwartete sie dort ein Leben in physischer und psychischer Gewalt. Und ihr Vater? Der kassierte von Riehl monatlich 20 Kronen an „Mieteinnahmen“ für seine Tochter. Am Ende sollte auch er vor Gericht verurteilt werden.

Wien um 1900 ist ein Umschlagplatz, der Waren und der Menschen. Der massive Zuzug in die Habsburger-Metropole, insbesondere aus den östlichen Gefilden, ließ die Bevölkerungszahlen und damit die Elendsviertel der Stadt rasant wachsen. Für die Menschenfänger des Fin de Siècle ein idealer Nährboden, um den unzähligen Bordellen junge Frauen zuzuführen, besonders oft junge Jüdinnen aus Galizien oder der Bukowina. Als eine der Damen aufbegehrt und ausnahmsweise an die richtigen Menschen gerät, kommt das eingespielte System aus Sklaverei, Ausbeutung und Korruption außer Balance: In einem aufsehenerregenden Prozess sagten Marie König und einige weitere junge Frauen gegen Riehl aus.

Die Sprache entlarvt die Koketterie der zeitgenössischen Presse, die den Gerichtsprozess genüsslich aufgriff: Die angeklagte Riehl wird zur „Kupplerin“ verklärt, „schlank“ und „hübsch“ seien die Zeuginnen vor Gericht, mitunter ist von einer „feinen Toilette“ zu lesen. Die Medienberichte – auch Karl Kraus schrieb darüber – sorgen gemeinsam mit der ausführlichen Gerichtsakte dafür, dass die „Universum History“-Doku auf bestes Quellenmaterial zurückgreifen konnte.

Den erwartbaren Voyeurismus bedient die Dokumentation bewusst nicht: „Wir fanden es spannender, das Politische zu erzählen“, betont Regisseur Stefan Ludwig. Für Caroline Haidacher, Leiterin der „Universum History“-Redaktion, geht es um das Grundverständnis, dass Geschichte nicht nur von den Mächtigen, sondern auch von den sogenannten einfachen Menschen geschrieben wird. Das Problem: Im Vergleich zur „Herrschaftsgeschichte“ ist die Quellenlage beim einfachen Volk gewöhnlich erheblich dünner.

Die neue Dokumentation, die im Rahmen einer Kooperation zwischen ORF, Geyrhalter Film und NDR-Arte entstand, beschränkt sich nicht auf den Fall Riehl allein, sondern nimmt ihn als Ausgangspunkt für den globalen Menschenhandel um die Jahrhundertwende. Etwa nach Buenos Aires, damals ein beliebtes Migrationsziel für Männer, die dort Arbeit und Glück erhofften. Der dadurch entstandene Überhang lockte nicht nur Bordellbetreiber in die argentinische Hauptstadt, auch Frauen entschieden sich teilweise bewusst für dieses Gewerbe, um der Verarmung zu entkommen. Auch diese freiwillige Form der Prostitution bildet die „Universum History“-Produktion stimmig ab.