Erstens: Ein Faun, der sich einen schwülen Nachmittag mit Träumereien vertreibt, müde von der Jagd nach Nymphen, eingehüllt in gleichzeitig schwere und leichte Harmonien, die eine Atmosphäre voller Begierde und träger Anmut zaubern. Zweitens: Ein Paar, das sich mit den Augen verschlingt, sich in einer Umarmung verliert, während seine Stimmen förmlich ineinander verschmelzen und sie sich ewige Lust und Liebe schwören. Drittens: Eine Frau, die sich am Leichnam ihres Geliebten noch einmal in eine Ekstase hineinfantasiert, die dermaßen intensiv ist, dass sie diese nicht überlebt.

Nur drei Beispiele: Claude Debussys „Nachmittag eines Fauns“, das Schlussduett des Liebespaares aus Claudio Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“ sowie Isoldes Liebestod aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“ – jedes demonstriert für sich, dass Musik nicht nur sinnlich, sondern sexuell aufgeladen sein kann. Lust und Erotik sind wesentliche Bestandteile einer riesigen Menge von Musik, auch wenn Musikbetrieb und Musiktheorie lange Zeit alles dazu getan haben, das vergessen zu lassen.

Es gibt kaum etwas weniger Körperfeindliches als ein klassisches Konzert in seiner bürgerlichen Ausprägung. Die Musikerinnen und Musiker tragen die förmlichste Kleidung, die vorstellbar ist, die Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen die ganze Zeit still und so gut wie bewegungslos auf ihren Sitzplätzen. Es hat sich sogar ein Verbot durchgesetzt, das untersagt, zwischen den einzelnen Teilen eines Stücks zu applaudieren. Wer dieses Verbot übertritt, aus Unkenntnis der Gepflogenheiten oder aus Begeisterung, riskiert böse Blicke und eine kleine soziale Blamage.

Die Crux mit dem "nationalen Kulturgut"

Solche Konventionen sind die Folge eines Disziplinierungsprozesses, der sich als Vergeistigung dargestellt hat. Dieser setzte im bürgerlichen Zeitalter, im 19. Jahrhundert ein. Musiker und Komponisten wollten nicht länger als Dienstboten von Adligen, sondern als ernsthafte Künstler wahrgenommen werden, die (weltliche) Musik wurde von der feinsinnigen, lustvollen Unterhaltung zum „nationalen Kulturgut“, in dem Geist und Seele und sogar eine Nation Ausdruck finden sollte. Die Innerlichkeit wurde zum Prinzip erhoben, das Musikerlebnis in einen inneren, seelisch-geistigen Akt verwandelt.

Die Zeiten, in denen Musik die Sinneslust und die Repräsentationsbedürfnisse barocker Lustmenschen gespiegelt hatten, waren damit vorbei. Die „unvernünftige“ Lust wurde domestiziert. Dabei stand die Musik der Romantik und Spätromantik paradoxerweise aber oft gar nicht so sehr für geistige Erbauung, sondern lieferte der sinnlichen Spannung unter der Oberfläche auch ein Ventil. Denn was wäre leidenschaftlicher als eine Oper von Giuseppe Verdi oder Richard Wagner?

Die styriarte stellt ihr erstes beinahe schon halb postpandemisches Festival (was Genaues weiß man ja natürlich nicht) ausgerechnet unter das Motto „Lust“. In einer Zeit, die uns sozialen Abstand verordnete, die zwischenmenschliche Beziehungen noch weiter ins Digitale verlagerte und die freudvolle Zusammenkünfte zwischen Freunden verbot, gibt es einfach kein besseres Thema. Weil die styriarte ohnehin seit einigen Jahren versucht, die üblichen Rituale des Klassikkonzerts aufzuweichen beziehungsweise abzuschaffen, passt das gut ins Bild. Gerade die ernste Musik braucht wieder ein bisschen weniger Strenge und ein bisschen mehr Leidenschaft und Sinne, die für den Genuss des Augenblicks geschärft sind, die sich von einem Klang betören und bestricken lassen.

Wie fundamental sich das Verhältnis von Lust und Moral verändert hat, zeigt eines der anfangs erwähnten Beispiele. Das Paar aus Claudio Monteverdis Barockoper, Kaiser Nero und Poppea, ist während des Stücks buchstäblich über Leichen gegangen, um zum Liebesglück zu gelangen. Das Happy End irritiert uns, weil es nicht mehr unseren moralischen Vorstellungen entspricht, dass auch böse Menschen Lieder haben. Und nicht die schlechtesten. Die Lust, sie will nicht das Gute, sie genügt sich selbst. Vielleicht hat das Bürgertum vor 200 Jahren auch deshalb eine solche Angst vor ihr entwickelt.