Sagen Sie nicht Maestra zu ihr! Lydia Tár lässt sich mit Maestro ansprechen. Sie trägt maßgeschneiderte Herrenanzüge, hat alle großen Preise gewonnen, von Leonard Bernstein gelernt, die gläserne Decke durchbrochen. Tár (Cate Blanchett) ist die erste Frau an der Spitze eines großen deutschen Orchesters. Macherin, Egomanin und Kontrollfreak.
Nur eines ist sie nicht: ein netter Mensch. Nicht einmal zu ihrer Partnerin Sharon (Nina Hoss), der ersten Geigerin im Orchester. Hinter die Fassade blickt das Publikum nur, wenn die gemeinsame Tochter im Spiel ist.
Die fiktive Titelfigur im sechsfach oscarnominierten Drama "Tár" ist ein komplexes Monstrum. Regisseur Todd Field erzählt unterkühlt eine verstörende #MeToo-Geschichte, die eine Täterin in den Fokus stellt. Das ist ungewöhnlich und seit der Uraufführung in Venedig einerseits zigfach preisgekrönt und andererseits auch oft kritisiert. Darf man das: eine Frau zeigen, die ihre Macht missbraucht, obwohl die meisten #MeToo-Taten von Männern begangen werden?
Fields filmische Antwort lautet: Macht ist geschlechtslos. "Tár" analysiert Macht, ihre Manipulation, ihren Missbrauch sowie die Angst vor ihrem Verlust. Er arbeitet sich an Fragen von Geniekult, so genannter "Cancel Culture", sowie Abhängigkeiten im Kulturbetrieb ab. Die Partitur dieser Erzählung ist voller lichter Höhen sowie dunkler Abgründe. Eindrucksvoll und künstlerisch bild- und soundgewaltig umgesetzt und von Österreichs dafür oscarnominierter Schnittmeisterin Monika Willi editiert, entwickelt der Film über den drohenden Untergang einer Frau einen ungemeinen Sog. Társ Leben gerät aus dem Takt, als eine ihrer ehemaligen Musikerinnen Suizid begeht. Ausgerechnet dann, als sie Mahlers "Fünfte Symphonie" einspielen will. Verstörende Geräusche wie das Schreien von Frauen schleichen sich beim Joggen oder im Hotelzimmer in ihr Leben. Die glänzende Biografie bekommt Risse, das Publikum erfährt häppchenweise, dass die Maestro junge Musikerinnen für eine Stiftung nicht nach ihrem Können castet, sondern nach ihrer erotischen Anziehung. Hat Tár genug von einer, lässt sie sie fallen.

Diese mächtige Frauenfigur im Patriarchat ist eine Paraderolle für Cate Blanchett. Vollkommen, versteinert, distanziert, panisch vor dem Machtverlust: Ihr Spiel macht die australische Starmimin zur Oscarfavoritin. Marin Alsop, Leiterin des ORF-Radio-Symphonieorchesters, ließ indes wissen, sie fühle sich "als Frau, als Dirigentin und als Lesbe" beleidigt. Ihre Biografie diente als Vorbild bei der Konstruktion der Titelfigur.