Der jüngste Fall in einer langen Reihe an #MeToo-Vorwürfen: Zehn Mitarbeiterinnen warfen dem Übergangsintendanten an der Berliner Volksbühne, Klaus Dörr, u.a. "körperliche Nähe und Berührungen, erotisierende Bemerkungen, anzügliche Witze und sexistische Sprüche" vor. Oder, wie die "taz" berichtete, "unverhohlenes Anstarren auf die Brust" oder Unter-den-Rock-Fotografieren. Dörr bestritt zunächst, trat dann zurück und ließ ausrichten, er übernehme die volle Verantwortung.
Dieser Fall ist kein Einzelfall. Hierzulande erinnert man sich an den ehemaligen Burgtheater-Direktor Mathias Hartmann, dem die Belegschaft einst in einem offenen Brief vorwarf, eine "Atmosphäre der Angst und Verunsicherung" geschaffen zu haben, auch von homophoben und sexistischen Sprüchen war die Rede. Und man erinnert sich an an den Vorwurf des sexuellen Fehlverhaltens gegen Regisseur Philipp Kochheim, als dieser an der Oper Graz das Musical "Ragtime" inszenierte. Die Liste ließe sich lange und auch quer durch viele Branchen der Kulturszene fortsetzen: regional, national und international.
Vorfälle wie jene in Berlin regen jedes Mal aufs Neue und unter lautem Getöse eine Debatte an. Auch dieses Mal. Bis zum nächsten Vorwurf ist sie oft verklungen. Und wie viele Einzelfälle es nicht einmal an die Öffentlichkeit schaffen, kann man nur erahnen. Im Theater scheint die Welt hinter den Kulissen mancherorts zu ticken wie ein jahrhundertealter Klassiker. Zeitlos unverändert. Und zutiefst patriarchal und hierarchisch. Ausgerechnet in einer Branche, die so gerne dringende und drängende Fragen wie Freiheit, Demokratie und Offenheit auf der Bühne verhandelt und in der die mehrheitlich männlichen Intendanten im deutschsprachigen Raum viele kluge Erkenntnisse zu kultur- und gesellschaftspolitischen Fragen beisteuern. "Eines der Grundprobleme für Veränderung ist, dass wir Kunst machen und kein Haus bauen. Das heißt auch, dass es einen Abwehrmechanismus von Regulierungen gibt - bei gleichzeitigem Selbstverständnis, dass wir ja so frei und progressiv sind. Bei uns wird niemand diskriminiert, denn wir machen ja Kunst. Da finden Dinge statt, die grenzüberschreitend sind", sagt Schauspielerin Lisa Weidenmüller zur "Kleinen Zeitung".
Die Initiative "Kill the Trauerspiel", gegründet vor über zwei Jahren, möchte das ändern. Barbara Wolfram, Bérénice Hebenstreit, Aslı Kışlal, Lisa Weidenmüller, Angela Heide, Eva Puchner, Johanna Rosenleitner und Birgit Schachner arbeiten in den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Produktion, Performance, Journalismus, Presse, Marketing und Kultur- und Theaterwissenschaft. Und sie fordern: "Wir brauchen Geschlechtergerechtigkeit und Diversität auf und hinter den Bühnen." So steht es festgeschrieben. Sie wollen Allianzen bilden, eine Plattform für alle Menschen im Theater- und Performance-Bereich bieten und Schritte initiieren. "Wir fangen bei null an", sagt die Dramaturgin Angela Heide zur "Kleinen Zeitung".
Die erste europäische Studie "Gender Equality & Diversity in European Theatres" der European Theatre Convention, publiziert im März 2021, hat mehr als 4000 Angestellte in 22 Ländern befragt und 11.500 KünstlerInnen in 650 Performances analysiert. Die Ergebnisse weisen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - lange geahnte Trends aus: Die vertragliche Situation von Männern ist sicherer als jene von Frauen. An der Spitze sind Theatermacherinnen weniger präsent als ihre männlichen Kollegen: Rund 68 Prozent der Direktoren und Intendanten sind demnach Männer, 32 Prozent Frauen. Dafür halten die Frauen aber bei mehr als 70 Prozent in den Bereichen Maske und Frisur. Und insgesamt sind Minderheiten unterrepräsentiert. Aber: "Autorinnen und Regisseurinnen zeigen einen klaren Trend zur Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen, die in der Mehrheit sind und Männer sichtbarer machen", heißt es darin auch.
Die Zahlen fehlen hierzulande
Erste Aktion von "Kill the Trauerspiel": die Initiierung und Forderung eines unabhängigen, wissenschaftlichen Gender Reports. Denn, auch das ist ein Fakt, eine umfassende Untermauerung der Situation durch Zahlen fehlt bislang in Österreich. Denn während andere Kulturbranchen in ihrem Kampf um gesetzlich verankerte Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit hierzulande viel geeinter auftreten, konkrete Petitionen nach klaren, wissenschaftlichen Fakten aufgesetzt haben und die Umsetzung einfordern - siehe Filmbereich -, hinkt der Bühnenbetrieb hinterher. Ende November des Vorjahres haben alle Parteien im Parlament einstimmig beschlossen, dass es künftig alle fünf Jahre einen Report für den Kulturbereich geben wird. Ein später Meilenstein. "Eine wissenschaftliche Studie wäre besser gewesen als die Erhebung aller Zahlen aus den Kulturabteilungen der Länder, die wir ohnehin schon kennen", relativiert Heide und verweist auf den ersten Film Gender Report aus dem Jahr 2018. Wichtig wäre es, dass es bundesweite Daten gebe und dass man auch die Landes- und Mittelbühne sowie die freie Szene und die vielen Festivals beleuchte. Und zwar komplex - in puncto Altersstruktur, Geschlechteridentität. Einkommen oder etwa, ob jemand Kinder hat oder nicht.
"Ich würde sagen: Das Theater, so wie wir es kennen, hat sich in seinen Strukturen in seinen 100 Jahren nicht grundlegend geändert. Das ist auch ein Teil des Problems", sagt Schauspielerin Lisa Weidenmüller. Und ergänzt: "Meist steht ein Intendant an der Spitze, der bestimmte Personalentscheidungen trifft, Gelder und Aufträge vergibt, Spielpläne bestimmt und all das zieht gewisse Entscheidungen nach sich. Da braucht es eine Weiterentwicklung und Erweiterung", betont sie. Und meint damit nicht nur mehr Frauen in den Spitzen, sondern u.a. auch in den Positionen Dramaturgie, Dramatik oder Regie sowie erweiterte Führungsteams - und diverse Sichtweisen im gesamten Betrieb. Das Ende des "Ein-Personen-Regimes" fordert u.a. der deutsche Theatermanagement-Professor Thomas Schmidt schon länger. Wie? Mit leitenden Gremien mit Beteiligung der Mitarbeitenden. Dafür könnte es ruhig vier- bis achtköpfige Teams geben.
"Es war schon immer so und deswegen machen wir das jetzt so." Dieser Satz, so Weidenmüller, müsse infrage gestellt werden. Es handle sich schließlich um öffentliche Gelder, deswegen sollte man fragen dürfen: "Wie kommt es zu Personalentscheidungen, welche Ausschüsse und Gremien entscheiden, wer sitzt da drinnen?" Und wer schaffe es überhaupt in eine Schauspielschule? In eine Dramatiker-Ausbildung? Und wer schafft es dann in ein fixes Engagement? Und unter welchen Bedingungen? Und: "Wir Schauspieler und Schauspielerinnen sind Schichtarbeitende", sagt sie. Es brauche organisierte Kinderbetreuung. "Oder, dass das überhaupt einmal ein Thema ist." Ein Beispiel: Wenn das Einstiegsgehalt am Stadttheater bei 1700/1800 Euro brutto liege, dann gehe sich von diesem Geld kein Babysitter mehr aus. Dass Schauspielstars etwa nach einem Nestroy-Preis anders bezahlt werden als Kolleginnen und Kollegen, das werde es immer geben, "aber dass eine Regieassistentin oder eine Hospitantin weniger Geld bekommt als ein männlicher Kollege, ist nicht einzusehen", sagt Weidenmüller. Es fehle an Transparenz und Solidarität innerhalb der Branche. Auch dafür treten die Initiatorinnen ein.
Würde aktuell ein Fall wie jener von Klaus Dörr in Wien passieren, könnte man sich z.B. als freie Schauspielerin oder Regie-Assistentin hoffentlich noch heuer an die neue Anlaufstelle für die Bereiche Kultur und Sport wenden, die Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer und Vizekanzler Werner Kogler Mitte März angekündigt haben. Denn: „Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in Kunst- und Kulturbetrieben müssen der Vergangenheit angehören." In der Zukunft.