Als im Dezember 2018 Radiostationen in den USA und Kanada den Song "Baby, It’s Cold Outside" aus dem Programm nahmen, weil sein Text sexuell übergriffig sei, war das vielleicht auch nur eine PR-Aktion. Doch es verriet viel über die Auswüchse politischer Korrektheit. Feministinnen, die daran Anstoß nahmen, machen sich ungewollt gemein mit den Moralwärtern der Muslimbruderschaft, die den Song bereits 1948 verdammt hatten.

Man müsste diesen Leuten einmal klassische Operettentexte zeigen. Im "Bettelstudent" von Carl Millöcker entschuldigt Oberst Ollendorf seine Übergriffigkeit mit einem pharisäerhaften "Ich hab’ sie ja nur auf die Schulter geküsst".In Franz Lehárs "Die lustige Witwe" preist die Titelfigur die Schneidigkeit ihrer Landsleute: "Bei mir daheim ist’s nicht der Brauch, dass Damen man hofiert. Mit Komplimenten wird man auch fast niemals molestiert! Geht einer gar ins Zeug so scharf, so unverschämt wie Sie, dann weiß man wohl, dass er es darf, denn heucheln wird der nie!"In Lehárs "Paganini" gedenkt der Geigenvirtuose seiner erotischen Erlebnisse mit „Gern hab’ ich die Frau’n geküsst, hab’ nie gefragt, ob es gestattet ist; dachte mir: nimm sie dir! küss sie nur, dazu sind sie ja hier!".
Solcherlei Herzensergießungen sind zwar ebenso antiquiert wie befremdlich, aber selbst wenn man sie unerträglich sexistisch fände, blieben es dennoch Äußerungen von Bühnenfiguren, fiktiven Charakteren, die, im Falle Ollendorfs, vor 137 Jahren erdacht worden sind. Freilich finden in diesen Figuren die überkommenen gesellschaftlichen Werte der Entstehungszeit ihren Ausdruck. Dass solche Formen von Unterdrückung und Bevormundung die Zeiten überdauert haben (und das haben sie zum Teil gewiss), provoziert das Unbehagen an diesen Texten. Es zählt zu den Pflichten heutiger Interpreten, von Regisseuren, Dramaturgen und Darstellern, dieses Unbehagen zwar nicht unbedingt mit dem Zeigefinger hervorzuheben, aber sich der Problematik bewusst zu sein.

Dabei ist der Umstand, dass die Operette heute im besten Fall als nostalgisch und hausbacken gilt, einer der gröberen Irrtümer der Kulturgeschichte. Um das zu verstehen, müssen wir uns an die Wiege der Operette zurückbegeben, ins Paris von Jacques Offenbach. Dessen Werke sind die Antithese zur Biederkeit: Giftige Satiren, deren Partituren der Komponist sozusagen mit Salzsäure verfasste. Es waren durch und durch anzügliche Stücke, deren zynischer Humor schon an Nihilismus grenzt. Diese Offenbachiaden mit ihrem Hang zur geistreichen Zote waren aber gar nicht im heutigen Sinne subversiv, indem sie sich gegen eine Obrigkeit wandten, sie waren eher Bestandsaufnahmen der Laster der Spezies Mensch. Umso höher die Fallhöhe, umso lustiger.

Auf dem Weg von Paris nach Wien

Bei der "Einwienerung" der französischen Operette durch Johann Strauß, Franz von Suppé, Carl Millöcker büßte das Format zwar bereits an Schärfe ein, war aber immer noch die liederliche Cousine der soliden Oper, die menschliche Schwächen, Niedertracht und Eigenheiten mit musikalischem Schwung aufs Korn nahm. Nach dieser "goldenen Ära" amalgamierten die Operetten der silbernen Ära die Phänomene der Moderne: Neue Produktionstechniken, neue Tanzrhythmen, Exotismus, Frivolität und greller Humor machen aus vielen dieser Werke Dampfdruckkammern des Menschlichen, Allzumenschlichen. Eine Tendenz, welche die Revueoperette der 20er und 30er noch verstärkte.

Mit dem Naziregime und der moralischen Restauration der Nachkriegsjahre sank das Genre zu betulicher Film- und Bühnenunterhaltung. Paradebeispiel ist Ralph Benatzkys "Weißes Rössl", im Original eine durchgeknallte Revueoperette, die zum Heimatrührstück herabsank.

In Wahrheit war die Krise der Operette immer eine ihrer Interpreten und in zweiter Linie auch ihres Publikums. Auch wenn es zum Gemeinplatz geworden ist, dass gerade diese Stücke die allerbesten Künstler brauchen und verdienen, Realität ist es noch zu selten. Doch die latente Unterschätzung des Genres kann nicht überdecken, dass unter den vielen Operetten interessante, berauschende, animierende und manche geniale sind. Zum Auftakt des Operettensommers wünschen wir Musikfans uns nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch Verwegenes und kleine Triumphe der Liederlichkeit.

Literaturtipps zur Operette:

Morgen muss ich fort von hier. Richard Tauber: Die Emigration eines Weltstars. Von Evelyn Steinthaler. Milena Verlag. Eine Biografie über den bedeutendsten Operetteninterpret aller Zeiten und seine Flucht vor den Nazis.

Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Von Volker Klotz. Studio Verlag. Ein Operettenführer für Fortgeschrittene: Das Genre auf dem historisch-musikwissenschaftlichen Seziertisch von Volker Klotz.

Jacques Offenbach und seine Zeit. Herausgegeben von Elisabeth Schmierer. Laaber Verlag. Ein Offenbachlesebuch über den Erfinder des modernen Operettengenres.