Was in diesem Jahr alles passiert ist? Glamouröse Sportereignisse, böse Politskandale, amouröse Blockbuster? Alles Fehlanzeige.
Das Jahr 2020 gehört Corona, und ich bin schuld. Ja, ich. Eigentlich meine Freundin, die veranstaltet nämlich zu Silvester stets ein Spiel, bei dem man glückskeksartige Botschaften ziehen muss – jeder nur ein Wort. Und der gezogene Begriff bestimmt dann das jeweilige Jahr. Es sollten nur positive Wörter sein: Weisheit, Kreativität, Allzweckreiniger. Im Jahr zuvor habe ich „Eroberung“ gezogen, prompt den Kern meiner Zwetschke geentert und den Roman „Die Eroberung Amerikas“ begonnen. Aber letzten Silvester kam was heraus? „Langsamkeit“! Jetzt haben wir den Spinat.

Die Welt hat eine Vollbremsung hingelegt. Erstaunlicherweise aber nicht wegen der schwedischen Klima-Jeanne-d’Arc oder aus Angst vor Gletscherschmelzen, was berechtigt wäre, sondern wegen eines Virus, der von Fledermäusen, Schuppentieren oder Frühlingsrollen stammt und einen monarchischen Namen trägt. Corona! Würde er wie ein Nahrungsergänzungsmittel heißen, wäre er nie so populär geworden.
Kaum jemand hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir so etwas einmal erleben. Auch Aids hat die Gesellschaft verändert, aber Corona? Eine neue Eiszeit! 2020 wird uns nicht wegen einer zerzausten Fußball-EM in Erinnerung bleiben, nicht wegen spektakulärer Entdeckungen oder Kunstskandale, sondern einzig und alleine wegen dieser Seuche. Wir mussten lernen, Abstriche zu machen und Abstriche über uns ergehen zu lassen. BDSM mit Infektionsketten. Völlig neue Wörter übernahmen das Kommando: Patient Zero, Superspreader, Prepper, Tracing-App, Triage, vulnerabel.

Anfangs habe ich diesen Vollholler nicht ernst genommen. Im Februar waren wir in Brasilien, das damals einen einzigen Fall hatte, zumindest offiziell. Die Hausarrest-Bilder made in China wirkten völlig surreal, als würde ein Staat erproben, wie weit er gehen kann. Dann kamen die Einschläge näher – Bergamo, Ischgl. Mir war wie in einer Zeichentrickfilmszene zumute, wo jemand einen scharfen Hund aufhetzt und plötzlich merkt, der trennende Zaun ist nicht mehr da.
Nun ging es rasant, von wegen Langsamkeit. Schluss mit Begrüßungsbussis, Handshakes. „Hugs for free“ klang auf einmal sehr bedrohlich, der Tag der Umarmung wurde virtuell gefeiert und es regnete Babyelefanten, Einkaufswägen. Klopapier, Seife und Germ wurden zu Luxusgütern, und alle redeten bloß noch in Zahlen, oder, wie Heinz Prüller einmal gesagt hat: Die Kurve ist sehr gerade. Händewaschen wurde Volkssport und Maskenmacher ein Beruf. Vorbei das Ausblasen der Geburtstagskerzen, wegen der Aerosole – auch so ein zerstäubtes Wort.

Der Dunning-Kruger-Effekt wurde virulent – alle glaubten, die Wahrheit zu kennen, aber niemand hatte einen blassen Tau. Wahr, wahrer, Wirrwarr. Menschen in Ganzkörperkondomen, Teletubbies-Style, kamen in Mode. Ich habe mir präventiv gleich einen Stoffhund auf Rädern zugelegt, um notfalls die Ausgangssperre austricksen zu können. Die Welt wurde wieder kleiner, Staaten machten ihre Grenzen dicht, schlossen ihre Völker in die selbst gewählte Politik. In Polen hat sich ein Fitnessstudio als Kirche deklariert, und Tschechien forderte einen Korridor für Urlauber ans Mittelmeer. In Spanien wurden die Rollläden heruntergelassen und Schweden ging den Sonderweg, der auch nirgendwohin führte. Zuletzt wurden in Dänemark fünfzehn Millionen Nerze erschlagen, was man euphemistisch keulen nennt.

Aber es gab auch Positives. Die Pendlerpauschale im Homeoffice etwa oder die Zoomereien in Wohnzimmer der Stars. Nun kennt man die Vorhänge von Mick Jagger oder die Couch von Meryl Streep – überraschend spießig. Jetzt wissen wir, was wohnhaft wirklich heißt. Sich einen hinter die Binde gießen hat seit der Maskenpflicht eine andere Bedeutung, aber bald werden wir ohnehin nur noch mit Strohhalm trinken und mit Pürierstab essen dürfen.

Der Satz des Jahres lautet zweifellos: „Die nächsten zwei Wochen werden entscheidend sein.“ Zeit war lange rar, dank Corona haben die meisten jetzt so viel davon, dass sie nicht mehr wissen, was anfangen. Kleidung bewachen oder Ohrenhaaren beim Wachsen zusehen ist ja keine ausfüllende Beschäftigung. Also Corona-Triathlon: Kochen, essen, schlafen. Von wegen Herdimmunität, ich war noch nie so kreativ: Moules et Sprit, Meeresgerüchtepaella, Steinpilzpudel, Tarte Tortellini.
Natürlich gab es auch Nebenschauplätze. Mein Sohn wurde maturiert und aus Dankbarkeit über die Erlösung aus der Elternmarter sollte ich kreuzend nach Mariazell knien.

Dominic Thiem wurde episch und hat unprosaisch bei den US Open aufgeräumt, während die Amerikaner ihren Donald als lahme Ente abgefedert haben, der oft agierte, als wäre seine Kinderschaukel zu nahe an der Mauer gestanden, die er selbst gebaut hat. Gegen Corona hat Trump übrigens Bleichmittel empfohlen, und ein paar, nicht die hellsten Schwäne im Teich, haben das dann auch gegurgelt. Nun wurde Joe Biden von den Wahlmännern zum Nachfolger bestimmt. Gibt es auch Wahlfrauen? Natürlich, die Walküren.

In Wien sind Urnengänge weniger kompliziert, da muss der typische Bürgermeister nur ein bisschen hypertonisch aussehen, damit ihn seine Viertel, die hier Grätzel heißen und auch sind, lieben. Dann der Terroranschlag. Ich habe besagten Schleich-di-Orschloch-Abend martiniganselnd verbracht. Plötzlich schälten alle ihren Smartphoneknochen aus der Kruste, kiefelten an Schlagzeilen wie: Geiselnahme auf der Mariahilferstraße, weitere Anschläge in Linz, Salzburg, Graz. Da bekam nicht nur die Gans die Flatter. Zum Glück nur Fake-News-Geschnatter.

Die nicht rechtskräftige Verurteilung des ehemals schönsten, jüngsten und intelligentesten Paradeschwiegersohnes ist dagegen amtlich. In Minneapolis wurde derweil ein Unschuldiger erstickt, aus den folgenden Antirassismus-Protesten erwuchs Black Lives Matter. Alexei Nawalnys Vergiftung hat weniger aufgerührt, aber der hat auch überlebt. Dann flog der Hafen Beiruts in die Luft, Buschbrände bedrohten Australien, brennende Flüchtlingslager auf Lesbos, und im Iran wurde ein Flugzeug abgeschossen. Mottl Mayer holte sich den Hahnenkamm und dem Brexit fehlte der Exit. Wie lange ist das alles her? Ewigkeiten. Selbst Wuhan klingt wie eine abgestandene Hühnersuppe aus längst vergangener Zeit.

Zum Glück ist dieses annus horribilis nun bald gegessen. Was 2021 bringen wird? Ich bin überraschungsbereit. Das Schächtelchen meiner Freundin ist gefüllt. Sicher will ich keinen Corona-Roman schreiben oder lesen, keine Metamorphosen des Covid, auch keine Brüder Coronasow. Dafür erscheint im Jänner „Die Eroberung Amerikas“. Im selben Monat bekommt die USA den ersten Präsidenten namens Joe. Es gab schon Jimmy, Bill, Ulysses, Rutherford, Woodrow, Warren, Dwight, und der vorletzte klang wie ungarischer Marillenbrand. Aber Joe?

Hoffentlich haben wenigstens wir wieder unseren Karl, ist die Eiszeit bald vorbei. Menschen treffen, lieben, kreativ sein, Gesundheit, Geschmack haben und genießen können, das sind die Hauptzutaten für ein kleines Glück. Aber welcher Begriff da jetzt passt? Offenheit wäre gut, vielleicht Beschleunigung. Alles, nur nicht wieder Langsamkeit.