Keine rollenden Steine, aber viel Mörtel. Das Haus in der Wardour Street 90 mitten im wuseligen Londoner Soho-Viertel ist derzeit eine staubende Baustelle. Welcher schicke Laden hier reinkommen wird, verrät das „Soon Opening“-Schild nicht. Vor ziemlich genau 60 Jahren, als in England eine Reihe von längst nicht mehr existierenden Bands, die man nur noch in Musik-Lexika nachblättern kann, an der Startrampe stand, befand sich hier der legendäre „Marquee Club“.

Und dort hatte eine Band ihren ersten Auftritt unter jenem Namen, der bis heute als Synonym für Rockmusik steht, obwohl die Musiker inzwischen längst im Rentneralter angekommen sind. Der Name der Band: Rolling Stones. Die Jahreszahl ihres Bestehens ist auch der schlichte Titel der aktuellen Tour, die das offenbar unerschütterliche Urgestein am Freitag auch ins Wiener Happel-Stadion führt: 60.

Time is on their side – noch immer. Aber warum ist das so? Warum strömen noch immer Zigtausende Menschen weltweit zu Stones-Konzerten; zu einer Band also, die den personifizierten Anachronismus darstellt? Da stehen Multimillionäre auf der Bühne und singen von sozialen Unruhen und vom „Street Fighting Man“ in den 1960er-Jahren; da mosern wohlbestallte Männer, die im Milch-und-Honig-Land leben, davon, dass sie keine „Satisfaction“ bekommen. Und die Massen jubeln und zahlen Ticketpreise von mehreren Hundert Euro.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Hier soll eine große, noch immer faszinierende und agile Band, nicht kleingeschrieben werden. Die Rolling Stones haben eine Handvoll grandioser Alben („Beggars Banquet“, „Let it Bleed“, „Sticky Fingers“, „Exile on Main Street“, „Black and Blue“) und einen Sack voll Songs für die Ewigkeit („Gimme Shelter“, „Midnight Rambler“, „Brown Sugar“, „Sympathy for the Devil“, „Jumpin’ Jack Flash“, „Wild Horses“...) in ihrem Portfolio.

Aber alle diese Werke sind tief in der Vergangenheit verankert. Ihr letztes einigermaßen relevantes Album („Some Girls“) haben die Stones vor mehr als 40 Jahren aufgenommen. Seither bedienen sie sich – mangels verkaufstauglicher Frischware – aus ihrem hauseigenen Konservenladen. Und die Käufer sind mit der Dosennahrung, die offenbar kein Ablaufdatum hat, hochzufrieden.
Der Status quo: Mick Jagger wird am 26. Juli 79 Jahre alt, Keith Richards im Dezember. Ronnie Wood ist knackige 74. Für das Rückgrat der Band Charlie Watts, der im Vorjahr im Alter von 80 Jahren starb, sitzt auf der aktuellen Tour Steve Jordan am Schlagzeug, er ist mit 65 Jahren der Jüngling in der Truppe.

Im Gegensatz zu anderen Rock-Sauriern, die noch immer auf die Bühne trotten, um sich ihr Altenteil zu verdienen, sind die zahlreichen Frauen, Ex-Frauen, Geliebten, 19 Kinder, 17 Enkelkinder und drei Urenkel der Bandmitglieder auf alle Ewigkeit und noch länger üppig versorgt. Die Stones müssen also nicht mehr rollen; die einzige Erklärung, warum sie es dennoch tun: weil sie es wollen und offenbar noch immer Spaß daran haben.

Das ist ihnen hoch anzurechnen. Und dieser Funken der Unbedingtheit, Unzerstörbarkeit und Unveränderlichkeit springt bis heute auf ein enthusiastisches Publikum über, das dankbar dafür ist, sich in Zeiten elementarer Veränderungen und Umbrüche zumindest zwei Stunden der Illusion des Konstanten hinzugeben.

It’s only Rock ’n’ Roll – but we like it. Die Stones waren nie die großen Innovatoren und musikalischen Pioniere, haben keinen Stil geprägt, nichts neu erfunden. Sicher, in den 60er-Jahren haben sie – neben zahlreichen anderen Bands – den muffigen Staub der 50er-Jahre aus den Wohnzimmern geblasen, Konventionen gesprengt und mit ihrem jugendlichen Revoluzzertum die – damals leicht erregbare – Elterngeneration auf die Palme gebracht.

Dabei waren sie von ihrer Herkunft her nie die schorfigen Underdogs, als die sie sich gut verkaufen ließen, sondern entstammen dem soliden Bildungsbürgertum. Kurios: Jene hingegen, die als „brave Bubis“ mit Anzug und Schlips gehandelt wurden – die Beatles nämlich – waren die wahren Working Class Heroes aus den Liverpooler Untiefen.

Beatles vs. Stones. Es war einmal. Aber um das Phänomen Stones zumindest ansatzweise zu erklären, lohnt ein Blick auf die beiden Bands. Abgesehen von ihren Anfängen, waren die Fab Four nie eine ausgewiesene Live-Band. Als das hysterische Beatlesmania-Gekreische alles übertönte, verließen McCartney, Lennon, Harrison und Starr Mitte der 1960er-Jahre genervt die Bühne, zogen sich in die Abbey-Road-Studios zurück und tüftelten dort gemeinsam mit dem genialen Produzenten George Martin an Alben, die bis heute zum Gral der Popmusik gehören: „Rubber Soul“, „Revolver“, „Sgt. Pepper“, „White Album“, „Abbey Road“.

Das kreative Künstlertum, das Ausloten musikalischer Grenzen war – bis zum Auseinanderbrechen der Band 1970 – ihr Kosmos. Die Stones hingegen hielten sich nie allzu lange in Studios auf, ihr Biotop war die Bühne, das Scheinwerferlicht, die Live-Inszenierung, dort konnten sie ihr Charisma – das bis heute ungebrochen ist – ausspielen.