Ein Friedenswunsch zu Beginn: Mit einem riesigen "Give Peace A Chance"-Chor, angestimmt auf einem Platz in der Innenstadt von Turin und von den rund 8000 Besuchern in der Arena Palasport Olimpico, wurde der 66. Eurovision Song Contest (ESC) eröffnet. Die Vorjahressieger Måneskin dürfen an diesem Abend freilich nicht fehlen; sie haben einen Gastauftritt mit ihrem neuen Song "Supermodel". Aber erst später. Erst durfte Laura Pausini (bei uns vor allem durch den Hit "La solitudine" aus 1993 bekannt) ein Medley singen. Und es wurde ein Stück Frieden bzw. ein Freidenswunsch: "Mutter, sing mir das Schlaflied . . . Ich möchte deine lieben Worte hören", heißt es in "Stefania" vom Kalush Orchestra. Obwohl schon 2021 geschrieben, hat es eine neue Bedeutung. Europa zeigte sich per Telefon & SMS solidarisch mit dem vom russischen Angriffskrieg gebeutelten Land. Für die Menschen in der Ukraine ist der Siegersong eine Befreiungshymne geworden; die ukrainische
Eisenbahn hat einen Zug nach dem Siegersong "Stefania" benannt.
Die italienische Grammy-Gewinnerin führte wie schon in den beiden Semifinalen durch die größte TV-Show der Welt, an der Seite von Popstar Mika ("Grace Kelly") und Fernsehmoderator Alessandro Cattelan. Zu diesem Zeitpunkt kannte die EBU (Veranstalter des ESC) schon den Sieger der Fachjury-Wertung (wo Österreichs Cesár Sampson mit "Nobody But You" 2019 in Lissabon auf Platz eins lag ... und dann durch das Televoting auf Bronze zurückgefallen ist.)
Denn die Experten geben ihre Wertungen schon an den Vorabenden ab. Bei den sogenannten "Jury Shows": Simone (Platz 10 in Zagreb 1990 mit "Keine Mauern mehr", seither Hits wie "Wahre Liebe"), Bandleader und Musikproduzent Wolfgang Lindner, Newcomerin Tina Naderer, Austro-Isländer und Wahnsinnsstimme Thorsteinn Einarsson ("Die große Chance" im ORF, Radioerfolge wie "Kryptonite") und Amadeus-Award-Gewinnerin "Die Mayerin", die zwar von der ORF-Unterhaltungsredaktion protegiert wird, aber in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist.
Überraschung, oder nicht? Die EBU kennt schon die Wertung der jeweils fünfköpfigen Expertenjuroren (Sänger, Musikproduzenten, Fachjournalisten etc.) aus allen 40 Ländern, die bereits Freitag Abend bei der Generalprobe (offiziell: Jury-Voting-Show) vergeben und nach Turin übermittelt wurden. Stimmberechtigt sind – wie Österreich – auch jene Länder, die in einem Halbfinale ausgeschieden sind.

Auf die Ukraine und ihrem Folkore-Rap "Stefania" von der bunten Truppe Kalush Orchestra folgt in den Wettbüros der britische Kandidat Sam Ryder mit seinem Glam-Pop-Titel "Space Man". Der 32-Jährige ist stimmlich eine Wucht!

Auf Platz drei liegt die schwedische Sängerin Cornelia Jakobs mit ihrem traurigen Liebeslied "Hold Me Closer". Auf Rang vier bei den Buchmachern ist Italiens Liebesduett "Brividi" (zu Deutsch: "Schauder") platziert, auf fünf Spanien (die heiße Choreografie von Chanel fällt mehr auf als die Komposition) und auf sechs der außergewöhnliche Beitrag von Serbien ("In corpore sano"). Hätte doch der ORF ein paar Tänzer für DJ Lumix & Pia Maria engagiert, aber das wollten die beiden nicht. Als Schlusslichter im Finale werden Belgien, Litauen und Deutschland geführt.

Es wird trotz allem spannend! Die ersten beiden Startnummern brachten gleich ordentlich Stimmung in die Halle. Los ging es mit Electro-Sound aus Tschechien vom Trio "We Are Domi", gefolgt vom Rumänen WRS, der trotz der Choreografie bei "Llámame" (übersetzt: "Ruf mich an") nicht zum Schwitzen kam. Oder war es das perfekte Make-up? In den Halbfinalen sah man ja sogar bei Balladen-Interpreten Schweißperlen.

Finnland schwimmt mit den Rockern von "The Rasmus", die mit "In The Shadows" (lange her: 2003) einen Welthit hatten, im Fahrwasser der Vorjahressieger. Nackter Oberkörper inklusive. Der Schweizer Marius Bear sang davon, dass auch Männer und Buben Gefühle zeigen dürfen; sein Lied "Boys Do Cry" könnte aus einer "Merci"-Schokolade-Werbung stammen, als markanter Sänger überzeugt er zu 100 Prozent.

Frankreich war schon einmal mit einem Lied in bretonischer Sprache angetreten, damals ohne moderne Verfremdungen. Und hatte kein Glück (1996 mit der Gruppe "Dan ar braz" und "Diwanit bugale"); es reichte nur für Platz 19. Auch 2022 wird es schwer werden, nicht bloß wegen der Sprache.

Ebenfalls nicht durch ein Halbfinale musste Spanien, weil es zu den fünf größten Beitragszahlern der EBU als Dachverband der europäischen Rundfunkstationen gehört. "Weniger ist mehr", lautete heuer das Motto von Spanien nach den Flops in den letzten Jahren. "Woki mit deim Popo", sah und klang hier anders als bei den österreichischen Trackshittaz in Baku. Dass der Choreograf schon für Jennifer Lopez gearbeitet hat, war unübersehbar. Der Flächenbrand von "Fuego" (Platz zwei von Zypern vor unserem Cesar Sampson 2018 in Lissabon) konnte nicht entzündend werden, aber Kompliment an Chanel: Tanzen und gut singen zugleich ist die Königsdisziplin. Spaniens ESC-Hoffnung singt auch davon, wie sie Männern den Kopf verdreht.

Bei einem anderen Finale-Fixstarter brauchte es wenig Show-Effekte, Italien setzte auf seine Stimmen und die Gefühle: Alle Fans in der Halle sangen fast jede Zeile von "Brividi" (Mahmood & Blanco) mit.
Für den deutschen Vertreter Malik Harris wurden auf dem Bühnenboden Teppiche ausgelegt (soll wohl eine gemütliche Atmosphäre vermitteln), umgeben ist er von verschiedenen Instrumenten, die er zum Teil auch selbst während "Rockstars" spielt. An Maliks toller Stimme wird ein schlechtes Abschneiden unserer Nachbarn jedenfalls nicht liegen . . .

Serbien fällt auf: Avantgarde-Künsterin Konstrakta besingt die viel zu teure Gesundheit: "ich habe keine Gesundheitsversicherung.
Oh, wie werden sie mir folgen (im Namen der Gesundheit)", lautet aber nur eine Message ihres ungwöhnlichen ESC-Beitrags. "Was ist das Geheimnis hinter Meghan Markles gesundem Haar? Was ist das Geheimnis dahinter?" ... so beginnt Serbiens Song.

Bei der Ukraine heißt es wiederum: "Ich finde immer meinen Weg nach Hause, selbst wenn alle Straßen zerstört sind. Sie hat mich nicht geweckt, selbst wenn draußen ein Sturm tobte!" Sieg mit 631 Punkten vor Großbritannien (466), Spanien (459) und Schweden (438). Platz fünf für Serbien, das beste Ergebnis seit 2007.


