All Sünd’ hast du getragen/ sonst müssten wir verzagen“, heißt es im Bach-Choral „O Lamm Gottes, unschuldig“, der auf der theologischen Vorstellung beruht, dass der Kreuzestod Jesu ein freiwilliges Opfer war, um Gott mit der sündigen Menschheit zu versöhnen. Ganz in dieser Tradition steht auch ein Gemälde von Leonardo da Vinci, das bereits zur Zeit seiner Entstehung für Aufsehen sorgte. „Als der Entwurf fertig war, sah man zwei Tage lang Jung und Alt, Männer und Frauen, wie zu einer großen Festlichkeit nach dem Zimmer pilgern, wo Leonardos Wunderwerk ausgestellt war“, überliefert sein jüngerer Kollege Giorgio Vasari.

Das von den Florentinern so gefeierte Meisterwerk zeigt uns zwei weibliche Gestalten, die liebevoll auf einen Knaben blicken. Es handelt sich dabei um eine Darstellung der „Anna selbdritt“, ein seit dem Mittelalter beliebtes Motiv, welches die christliche „Übermutter“ gemeinsam mit ihrer Tochter Maria und ihrem Enkelkind vor Augen führt.

Leonardo hat das Geschehen in eine einsame Landschaft verlegt, mit heroischen Bergen und einem Baum im Hintergrund. Doch die Idylle trügt. Denn der Knabe, der sich anschickt, auf ein Lämmchen zu steigen, ist selbst das unschuldige Opfertier, das sich für die Menschheit hingeben wird. Maria scheint dies zu spüren und ihr Kind von seinem Schicksal abhalten zu wollen. Nur Anna, die kaum älter als ihre Tochter dargestellt ist, verfolgt das Geschehen mit einer gewissen Abgeklärtheit.

Leonardo hat das Gemälde, das heute im Pariser Louvre zu bewundern ist, bis zu seinem Tod nicht aus der Hand gegeben. Und er hat es auch nie vollendet – zu erkennen etwa am blauen Mantel von Maria, die seltsam über dem Schoß ihrer Mutter zu schweben scheint.

Vaterlose Kindheit

Laut Sigmund Freud spiegelt sich in dieser Szene Leonardos vaterlose Kindheit als unehelicher Sohn eines Notars wider, der anfangs von seiner Mutter, einer einfachen Magd, und später von der jungen Frau seines Großvaters aufgezogen wurde. Die „Überzärtlichkeit“ der beiden habe zu einer erotischen Bindung des Knaben an die Mutter und letztlich zu Leonardos Homosexualität geführt, was dieser durch „Überproduktivität sublimiert“ habe.
Was damit gemeint sein könnte, verdeutlichen zwei Maltechniken, die der Künstler bei seiner „Anna selbdritt“ erprobte: das „Sfumato“, eine Art milchige Unschärfe von entfernteren Gegenständen, und das „Chiaroscuro“, das den Gestalten mittels Hell-Dunkel-Kontrasten mehr Räumlichkeit und Dramatik verleiht. Beide Prinzipien haben die Malerei ebenso verändert wie das Geschehen von Golgota die abendländische Geschichte.

Dass es sich beim Kreuzestod Jesu um ein Sühneopfer handelte, wird heute übrigens vielfach bezweifelt. Der bedeutende Theologe Eugen Biser meinte in diesem Sinn: „Ein Gott der bedingungslosen Liebe wird durch Opfer nicht versöhnt, ganz davon zu schweigen, dass er gar keine Opfer will.“

„Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Johannes 1,29) wird also auch weiterhin die Geister beschäftigen. Nicht nur jene, die sich heute einen „persönlichen Feiertag“ nehmen mussten.