"Nessun dorma" (Keiner schlafe) - Regisseur Marco Arturo Marelli dürfte sich den Titel der berühmtesten Arie aus "Turandot" als Motto für seine Inszenierung zum Auftakt der Bregenzer Festspiele zu Herzen genommen haben. Auf der Seebühne präsentierte er Giacomo Puccinis letztes Werk am Mittwochabend als bildgewaltiges Spektakel von hoher Ästhetik.

Das Premierenpublikum inklusive Politprominenz von Bundespräsident Heinz Fischer abwärts hielt ungeachtet immer wieder einsetzenden Regens aus und sich im Anschluss beim Applaus nicht zurück. Marelli  lässt drei Feuerkünstler, Kampftänzer und Wasserfontänen auffahren. Prinzessin Turandot hat ihren ersten Auftritt mit dem Boot, der erfolglose Brautwerber aus Persien vor der Hinrichtung seinen letzten ebenfalls. Bald wird seine kopflose Leiche im Bodensee treiben.

Blickfang

Der Blickfang schlechthin ungeachtet dieses Treibens bleibt aber die eigentliche Bühnenkonstruktion, für die Marelli - wie immer in Personalunion als Bühnenbildner tätig - 72 Meter Chinesischer Mauer in den See stellt. Die berühmte Terracottaarmee rahmt als Sinnbild eines Gewaltregimes das Geschehen und versinkt davor im See. Zugleich dienen die steinernen Krieger der Lichtregie von Davy Cunningham als wabernde Leinwand für suggestive Farbspiele.

Das eigentliche Kernstück ist der Bühnenzylinder in der Mitte der Konstruktion, der nicht nur als ausfahrbare Drehbühne dient, deren Unterteil gleich zwei weitere Spielflächen bereithält, sondern auf der Unterseite des aufklappbaren Bodens auch noch eine Leinwand (sowie einen weiteren Spielort) bietet, auf die Bilder in bestechender Klarheit projiziert werden. Bei all diesem Spektakel gelingen Marelli immer wieder auch Momente von ästhetischer Schlichtheit, in denen die Farbe dominiert.

Einzig störend

Einzig störend beim ansonsten stringenten Regiekonzept ist die Idee, den brautwerbenden Prinz Calaf als Wiedergänger seines Schöpfers Puccini zu stylen, der also als Schnurrbart tragender 20er-Jahre-Dandy durch das zeitlos-chinesische Ambiente der übrigen Figuren wandelt, was wohl auch einem darstellerisch begabteren Sänger als Riccardo Massi zu viel abverlangen dürfte. Hier wird eine weitere Deutungsebene eröffnet, deren Tiefen aber nicht ausgelotet werden, sondern lediglich die Störung des Gesamtkonzepts zur Folge haben.

Aber apropos Sänger: Musik gab es ja auch noch am Abend. Am meisten tat sich Guanqun Yu als sich opfernde Dienerin Liu hervor, die mit schellendem, höhensicherem Sopran ungeachtet eines gewissen Übereinsatzes des Vibratos die Zuschauerherzen und -ohren für sich eroberte. Mlada Khudoley besitzt für die Turandot die nötige Schärfe als männermordende Femme fatale, während Massi als Calaf trotz einer passablen Gesamtleistung in den Höhen teils stark forcieren musste. Der aufstrebende Bariton Andre Schuen überzeugte hingegen als stimmlich kernig-geschmeidiger Ping.

Härte

Die Wiener Symphoniker unter Paolo Carignani setzen bei ihrer Interpretation auf Härte. Gleich der erbarmungslosen Turandot führen hier die Blechbläser das Kommando, während die streichelweichen Streicher sich im Hintergrund halten. Den großen Puccini-Schmalzbogen sucht man hier vergebens, wobei es sich als stimmige Entscheidung erwies, den Alfano-Schluss an den See zu bringen. Der 1924 verstorbene Puccini hatte die "Turandot" ja nur bis zum Schlussduett verfasst, weshalb Kollege Franco Alfano das Werk vollendete - ein Schluss der in seiner Gesamtheit erstmals in Österreich zu hören ist.

ORF 2 und 3sat

Mit dem Premierenabend ist nun das wichtige Etappenziel für Neo-Intendantin Elisabeth Sobotka in ihrer ersten Saison in Bregenz erreicht. Diese "Turandot" dürfte das Publikum an den See bringen. Wer hingegen die Gewissheit haben möchte, nicht nass zu werden, der kann am Freitag die Inszenierung live auf 3sat verfolgen, bevor ORF III die Fassung am Sonntag sendet. ORF 2, SWR und SFR zeigen hingegen parallel eine Version unter der Bildregie von Torben Schmidt Jacobsen, die auch Blicke hinter die Kulissen erlaubt. Und wem zwar Marelli, nicht aber die Seebühnen-"Turandot" liegt, der kann ab 28. April 2016 in der Wiener Staatsoper die Premiere einer weiteren "Turandot"-Inszenierung des Schweizers sehen, die seine Interpretation bereits in Stockholm und Graz gezeigt hat.

MARTIN FICHTER-WÖß/APA