Gefälschte Pässe, eine Schleuserbande, gefolterte Flüchtlinge, ein syrisches Mädchen, tot aufgefunden in einem Kofferraum, ihr Bruder hält sie im Arm. Kurze Zeit später ein toter syrischer Mann in einem Wagen, mitten im Schilf. Dieser „Tatort“zaudert nicht. Schon in den ersten Minuten zoomt die Episode in den syrischen Bürgerkrieg – nicht nach Homs, sondern ins niedersächsische Oldenburg, ungeschönt und in starken Bildern mitten hinein in eine bürgerliche Arztfamilie.

Novembergrau-Schattierungen

Krieg ist Gift, der die Menschen zerreißt – egal wie weit entfernt gemordet wird. Im Hintergrund flimmern Bilder vom Kriegsgebiet in den Fernsehern.
Der innere Krieg - das ist der Grundtenor des verworren verwobenen, aber aktuell höchst brisanten „Tatort“-Falls unter der Regie des Wieners Marvin Kren. Er will in 90 Minuten viel. Und er lässt Zuseher anfangs orientierungslos wie im Novembergrau von Nordseedeutschland stehen. Figuren werden nur vage gezeichnet. Schattierungen statt klarer Zuweisungen. Das gefällt.

Es dauert, bis sich der Nebel lichtet und zu erkennen ist, wer die Verbündeten und wer die Bösen sind – und warum. Dass der Syrer Harun (Homeland-Bösewicht Navid Negahban) nicht unbedingt Gutes im Sinn hat, wird schnell klar. Warum er aber in Deutschland ist und welche Rolle er im syrischen Krieg in einem Krankenhaus inne hatte, das muss erst einmal Stück für Stück zusammengesetzt werden.

Feinde oder doch Freunde?


Im Schwebezustand und in dem von Erzählsträngen überladenen Drehbuch verliert Kren aber viel Zeit. Zeit, die ihm am Ende fehlt. Als endlich erzählt wird, wie die syrische Diaspora in Oldenburg tickt. Wer verfeindet, wer befreundet ist. Die Schlüsselfigur spielt Raja, (großartig und eiskalt Daniela Golpashin) die Harun nach Deutschland gelockt hat, um sich an ihm für den Tod ihres Vaters zu rächen.


Trotz Terror, Folter, Gewalt: Der Fall geizt nicht mit zarten Seiten. Was Fans der beiden Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) von Anfang an ahnten, wird in dieser Episode endlich zugelassen: es knistert. Die Distanzierte und der Herzige kommen sich näher. In einer vergammelten Bar. Bei einem wirren Barmixgetränk: Milch mit Korn. Es dauert nicht lange, bis sie zu Bonnie Tylers „Holding Out For A Hero“ tanzen und sie ihm Hotelzimmer sagt: „Freigegeben.“ Es folgen Knutschszenen.

Das Bild hängt schief


Das hübscheste Bild: Wie Falke morgens aufwacht, eines der Bilder über ihm an der mit Tapeten gekleisterten Wand hängt schief, ein Glas Milch steht auf dem Nachttisch. Lorenz sitzt schon vor dem Laptop, kurze Zeit später siezen sie sich wieder. Passend zum gesamten Plot bleibt aber auch die zarte Liason der beiden vage – es muss ja noch Entwicklungspotenzial für die vielen Folgen mit dem Falken bleiben. Hoffentlich gibt's noch viele davon. Denn Wotan Wilke Möhring ist ans Herz gewachsen, und obwohl erst seit vier „Tatort“-Folgen dabei, mit seinem Faible für Milch, Wollpullis und Lederjacken schon Hero (auch ohne Bonnie Tyler).


Heldenhaft ist übrigens auch jene Szene, in der die Forensik-Gouvernante Dr. Evers (Achtung, Gefahr für Boerne!), herrlich kauzig verkörpert von Brigitte Kren, vorzeigt, wie Apfelstücke einen Herzstillstand auslösen können; Bolustod genannt. Weil wir schon beim Bildungsauftrag sind: Pomologie ist die Lehre der Obstbaukunde. Und das Sprichwort „An apple a day, keeps the doctor away“ stimmt in diesem Fall nicht.