Auch in ihrem sechsten Jahr als Direktorin der Viennale hat Eva Sangiorgi ein gutes Händchen für den Eröffnungsfilm am Donnerstagabend im Gartenbaukino an der Wiener Ringstraße. „Magyarázat mindenre“ („Explanation For Everything“) von Gábor Reisz ist ein kleiner Film, der große und drängende Themen entwickelt. Es ist ein fein gezeichnetes, aber messerscharfes Mentalitätsporträt über das gegenwärtige Ungarn unter Regierungschef Viktor Orbán. In seinem dritten Langfilm nimmt der Regisseur ein Missverständnis zum Ausgangspunkt einer metaphorischen Erzählung. Der unmotivierte Maturant Abel (Gáspár Adonyi-Walsh) ist vor der Prüfung mehr mit den Schwärmereien für seine beste Freundin Janka (Eliza Sodro) beschäftigt als mit Fragen zur Industriellen Revolution oder anderen Epochen aus seinem Geschichtestoff. Sehr zum Leid seiner Eltern. Vor der Kommission hat er ein Blackout und fliegt prompt durch.

Davor fragt ihn sein linksliberaler Geschichte-Lehrer Jakab (Andras Rusznak) noch fast beiläufig, warum er einen Ungarn-Anstecker - das Zeichen von Orbáns Fidesz-Partei - trage. Und aus dieser Frage spinnt Reisz in 152 kurzweiligen Minuten eine Eskalation nach der nächsten. Kleine Dinge schaukeln sich hier zunehmend auf. Abel erzählt seinem konservativen Vater davon, verschweigt seinen Aussetzer. Der Vater springt auf und tratscht es seinem Arzt auf dem Behandlungstisch weiter. Irgendwann landet es bei einer jungen, ehrgeizigen Journalistin Erika (Rebeka Hatházi), die medial eine politische Affäre mit internationalem Medieninteresse anzettelt. Der Low-Budget-Film im 4:3-Bildformat gewährt Inneneinblicke in die Haltungen und Lebensweisen seiner Protagonistinnen und Protagonisten, indem er verschiedene Perspektiven einnimmt, Sympathie für seine Figuren hat und wohldosiert Humor einsetzt.

„Magyarázat mindenre“ („Explanation For Everything“) eröffnete die Viennale
„Magyarázat mindenre“ („Explanation For Everything“) eröffnete die Viennale © Viennale

„Kultur ist ein Raum des Widerstands“, sagte Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi in ihrer Rede zur Eröffnung. Sie hätte angesichts der Weltlage um Worte für diese Rede gerungen. Und Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler ergänzt: „Es ist ein Film, der in seinem Heimatland nicht gefördert wird.“ Das sollte „uns zu denken geben“. Tatsächlich hat Reisz einen Film gedreht, wie er es aus der Filmakademie gewohnt gewesen sei: mit Unterstützung der Familien und Freunden, deren Häusern mutierten im Urlaub zu Drehorten. Um Kosten für Kamera-Equipment zu sparen, drehte man mit dem Rollstuhl der Oma. „Wir haben versucht, den üblichen Kontext aus Links und Rechts hinter uns zu lassen und miteinander ins Gespräch zu kommen“, sagte die Produzentin Júlia Berkes. In Venedig gewann der Eröffnungsfilm der Viennale den Hauptpreis in der „Orrizzonti“-Schiene. Und seinen Horizont erweitert kann man bei der 61. Ausgabe des Filmfestivals noch bis 31. Oktober von frühmorgens bis spätnachts in den Festivalkinos der Stadt und bei all den Spezialprogrammen.