Eine stichhaltige Erklärung, warum ausgerechnet Osttirol im Bereich Freileitungsbau europaweit den Ruf als Kompetenzzentrum innehat, gibt es nicht. Vielleicht liegt es tatsächlich an den sprichwörtlichen Tugenden Zähigkeit, Verlässlichkeit und Belastbarkeit, die sich der heimische Menschenschlag aneignen musste. Schon vor Jahrhunderten sind die Handwerker in Scharen aus den Osttiroler Tälern ausgezogen, um in der Fremde gutes Geld zu verdienen. „Foschtgiena“, also Fortgeher, nannte man sie im Defereggental.

Hubschrauber gehören zu den Helfern im Freileitungsbau
Hubschrauber gehören zu den Helfern im Freileitungsbau © KK/Cteam Freileitungsbau

Osttiroler Monteure sind seit den Neunzigern gefragt

In den Neunzigerjahren versammelte Alpine-Energie-Vertreter Otto Pidner für den Leitungsbau im nahen Bundesland Salzburg einige Osttiroler Handwerker. Seither werben die heimischen Mastensteiger immer wieder neue Arbeitskräfte in ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis an. „Es waren damals wohl die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, meint Alexander Zojer, Mitbegründer und Geschäftsführer des Freileitungsbauunternehmens Cteam in Matrei in Osttirol.

Die Aufgaben sind anspruchsvoll
Die Aufgaben sind anspruchsvoll © KK/Electron Österreich

Das Stromnetz in Europa stößt an seine Belastungsgrenzen. Stoßweise Erzeugungsspitzen aus Wind- und Sonnenkraft müssen ständig ausbalanciert werden, damit die Wechselstromfrequenz von 50 Hertz nicht aus dem Takt gerät und das Netz länderübergreifend zusammenbricht. „Die Netzinfrastruktur muss dem stetig steigenden Bedarf angepasst werden. Es gibt viel zu tun“, erklärt Zojer.

Freileitungsmonteure müssen in großer Höhe arbeiten
Freileitungsmonteure müssen in großer Höhe arbeiten © KK/Electron Österreich

Zwei Dienstleister betreiben Standorte im Bezirk

Vor 20 Jahren hat Zojer, dessen Vater Bernhard zahlreiche junge Osttiroler in das Handwerk des Freileitungsbaus eingeführt hat, selbst mit dem „Mastensteigen“ begonnen. „In erster Linie, um schnell gutes Geld zu verdienen“, lächelt der Fachmann heute. Mit Unterbrechungen durch seine Ausbildung gelang ihm der Aufstieg bis zum eigenen Unternehmen, das in der Tauerngemeinde seinen Stammsitz eingerichtet hat. Im Vorjahr zählte Cteam noch 105 Mitarbeiter. Allein seit dem Jahreswechsel sind 20 neue Kräfte hinzugekommen. Und es werden mehr. „Noch heute ist es so, dass man bei schwierigen Leitungsbauprojekten nach Osttirolern verlangt“, berichtet Zojer. „Je schwieriger die Baustelle, umso lauter die Forderung: Kommt ihr eh mit euren Osttirolern?“ Das höre man in ganz Europa. Die Auftragsvolumina liegen zwischen 100.000 Euro und 100 Millionen Euro.

Bei Wind und Wetter wird ganzjährig gearbeitet
Bei Wind und Wetter wird ganzjährig gearbeitet © KK/Cteam Freileitungsbau

Es gibt inzwischen 16 Freileitungsbauunternehmen in Deutschland, neun sind es in Österreich. Man kennt einander. „Es ist sogar so, dass viele Führungskräfte in diesen Firmen ursprünglich aus Osttirol stammen“, gewährt der Cteam-Geschäftsführer Einblick. Der Arbeitsmarkt in diesem Segment boomt. „Egal, bei welchem Mitbewerber du dich meldest: Du darfst bestimmt am nächsten Montag anfangen.“ Die Anzahl der Monteure in Österreich schätzt Zojer auf 650, davon kommen mehr als zwei Drittel auch heute noch aus dem Bezirk Lienz.

Baustellen von Italien bis Schweden

Es ist den Osttirolern zu verdanken, dass sich im Freileitungsbau fast überall in Europa die Viertagewoche durchgesetzt hat. „Das geht vermutlich auf die Anfänge zurück“, erläutert Zojer. Die Baustellen waren früher in fast allen europäischen Ländern verteilt: Von Schweden über Frankreich, Belgien und Deutschland bis nach Italien erreichten die Anforderungen den Bezirk. Vor allem aus Matrei und den Seitentälern des Iseltals zogen die Furchtlosesten als Mastensteiger aus, um in luftiger Höhe bei Wind und Wetter kilometerlange Leitungsstränge zu ziehen. Wegen ihrer weiten Anfahrtswege setzten die Osttiroler Monteure die Viertagewoche durch. Das blieb in weiten Teilen bis heute so.

In der Pause genießen die Monteure ihre Aussicht
In der Pause genießen die Monteure ihre Aussicht © KK/Cteam Freileitungsbau

„Der Job ist körperlich sehr anspruchsvoll, es gibt keine Winterpause und man muss im Team immer verlässlich zusammenarbeiten“, beschreibt Michael Hanser, Standortleiter von Electron Österreich am Stützpunkt in Nußdorf-Debant, die Tätigkeit des Freiland-Leitungsbaus. Es handelt sich um ein „angelerntes“ Gewerbe. „Wir haben Köche, Kellner und Bäcker in unseren Reihen“, sagt Hanser. „Schwindelfrei muss man sein.“ Electron beschäftigt aktuell mehr als 80 Mitarbeiter, die zu 70 Prozent aus Osttirol stammen. Der Rest ist in Oberkärnten daheim. Besonders beliebt als Einsteiger sind Zimmerleute und Metallbauer. In einem Electron-Bus bilden jeweils drei bis vier Monteure eine Mannschaft. „Das Verhältnis der Leute untereinander ist sehr familiär.“

Solche „Stromautobahnen“ gibt es in Norddeutschland
Solche „Stromautobahnen“ gibt es in Norddeutschland © KK/Electron Österreich

Neue Leitungen und Instandsetzungen als Aufgaben

Dienstleister wie Cteam in Matrei und Electron in Nußdorf-Debant sind Generalunternehmer: Von der Planung bis zur fertigen Hochspannungsleitung liefern sie bei Bedarf alles aus einer Hand. Bei den Aufträgen handelt sich manchmal um ganz neue Leitungsstrecken, vielfach jedoch um Wartung und Instandsetzungen, zum Beispiel nach Zwischenfällen.

Vor zwei Jahren wollte sich mit Europten übrigens ein drittes Freileitungsunternehmen in Osttirol ansiedeln, und zwar in Dölsach. Über den Spatenstich ist das Vorhaben bisher aber nicht hinausgekommen.

Electron vergrößert seinen Standort in Nußdorf-Debant nur eineinhalb Jahre nach der Eröffnung
Electron vergrößert seinen Standort in Nußdorf-Debant nur eineinhalb Jahre nach der Eröffnung © KK/Electron Freileitungsbau