Von „dunkler Farbe“ waren die heiligen Reliquien, „vertrocknet, aber intakt der Körper und in zu Staub zerfallende Bandagen gehüllt“, ein „unangenehmer Geruch“ erfüllte die Krypta – schrieb Leonardo Conte Manin 1811 in sein Tagebuch. Daneben fanden sich, so der Conte: Jede Menge Asche und eine Urne mit den Überresten der Hl. Antonius. Der venezianische Graf war Augenzeuge, als die Reliquien des Evangelisten Markus aus der feuchten, durch Hochwasser gefährdeten Krypta unter dem Markusdom in trockenere Gefilde vor den Hauptaltar der Basilika umgebettet wurden.

Laut christlicher Tradition wurde der Bischof von Alexandria im Jahr 68 von Feinden während einer Messe überfallen, geköpft und anschließend verbrannt. Woher kommt der intakte Leichnam im Dom? „Eine mögliche Hypothese lieferte der britische Historiker Andrew Chugg. Demnach könnte es sich um die Mumie Alexanders des Großen handeln“, sagt der venezianische Historiker und Romanautor Andrea Zanetti.

Historiker und Autor Andrea Zanetti
Historiker und Autor Andrea Zanetti © Zanetti/privat

Aber der Reihe nach: Vor 2300 Jahre starb der Makedonier, nachdem er ein gewaltiges Weltreich erobert hatte mit nur 33 Jahren in den Sümpfen Babylons. Einbalsamiert hätte er in einem goldenen Sarkophag seine letzte Reise in die Heimat antreten sollen, doch Ptolemäus, einer seiner Generäle, entführte die Mumie nach Ägypten und bestattete sie in Menfi. Dessen Sohn überführte sie in einen prachtvollen Tempel nach Alexandria, wo über Jahrhunderte dem zu einem Gott erhobenen Alexander römische Machthaber, von Julius Cäsar bis Kaiser Augustus, die Referenz erwiesen. „Das ist durch antike Quellen dokumentiert“, sagt Zanetti.

Um 400 herrschte plötzlich Funkstille – seither sind die Mumie und das Grab Alexanders verschollen. Kaiser Theodosius hatte 380 das Christentum zur offiziellen Staatsreligion erhoben. „Alexanders Grab wäre wohl ein bevorzugtes Opfer des Bildersturms geworden, vielleicht haben sich die Fans des Makedoniers etwas einfallen lassen.“ Zeitgleich tauchte in Alexandria nämlich plötzlich das Grab des Hl. Markus auf, inklusive intakter Reliquie. Und ein erklärender Text wurde gleich mitgeliefert: Ein Sturm soll die Flammen des Scheiterhaufens erstickt haben.

Als Ende des 7. Jahrhunderts Ägypten von den Arabern erobert wurde, sind die Gebeine erneut in Gefahr. 828 entführten die venezianischen Kaufleute Buono da Malamocco und Rustico da Torcello die Reliquien unter Schweinefleisch verborgen aus Alexandria – vor den alexandrinischen Mönchen rechtfertigten sie sich mit den Gefahren, denen die religiösen Kostbarkeiten von den Moslems drohten und trösteten sie mit der Tatsache, dass Markus ohnehin zuerst Aquileia und damit quasi Venedig missioniert habe. Seither blüht der Markuskult am Canal Grande und lieferte der Serenissima über ein Jahrtausend lang die religiöse, politische und moralische Rechtfertigung für ihr Reich im Mittelmeer.

Viele Spuren

Wer nun tatsächlich die Mumie im Markusdom war, wird sich ohne DNA-Analyse, von denen der Vatikan natürlich nichts wissen will, nicht klären lassen. „Fakt ist, dass man rund um den Markusdom Alexander dem Großen oft begegnet – sei es als Porträt auf der Pala d'Oro, in Basreliefen an der West- und Nordflanke der Basilika oder verkleidet als Hl. Theodor in der Statue auf einer der beiden Säulen vor dem Dom“, so Zanetti. Eine mit dem Argeadenstern, dem Wappen der makedonischen Königsdynastie und Waffen, wie sie Alexanders Vater Philipp erfunden hatte, geschmückte Marmorplatte, die vielleicht Teil des Grabs hätte sein können, wurde mittlerweile wissenschaftlich untersucht. Der Stein stammt nicht aus dem Orient, sondern aus Aurisina und wurde von den Römern erst ab dem 1. Jh. v. Chr. verwendet. „Vielleicht haben die venezianischen Kaufleute eine Skizze der Grabplatte in Alexandria angefertigt und in Venedig hat man sie nachgebaut“, so Zanetti.

Das Basrelief am Markusdom zeigt Alexander, gezogen von zwei Greifen auf einem Streitwagen, wie er den Himmel erobern will
Das Basrelief am Markusdom zeigt Alexander, gezogen von zwei Greifen auf einem Streitwagen, wie er den Himmel erobern will © Zanetti/privat