Vor wenigen Tagen noch überwogen die warnenden Stimmen in der tschechischen Regierung davor, das öffentliche Leben noch vor dem Ende der zweiten Corona-Welle wieder hochzufahren. Dann hieß es, die Chancen dafür vor Weihnachten stünden 50:50. Nach der selbst verordneten Gefährdungs-Ampel, sagte man danach, dürfte maximal die Hauptstadt Prag wieder zu einem normaleren Leben zurückkehren, wo das Infektionsgeschehen stark rückläufig sei. Dort wurden 155 Infizierte in den letzten sieben Tagen pro 100.000 Einwohner gezählt. Am anderen Ende der Skala liegt derzeit die Stadt Havlíčkův Brod/Deutschbrod; dort beträgt die 7-Tage-Inzidenz 651. In Österreich würde man da Großalarm ausrufen.

Auch eine andere Zahl ist alles andere als dazu angetan, Sorglosigkeit auszulösen. Der R-Faktor, der aussagt, wie viele Mitbürger ein Infizierter ansteckt, lag bei der Auslösung des zweiten tschechischen Lockdowns in diesem Jahr bei 1,45. An eine Lockerung, so hieß es damals, sei erst zu denken, wenn dieser Wert bei 0,7 oder 0,8 liege. Gedrückt werden konnte er aber nur auf 0,9. Und schließlich redet kaum jemand davon, dass die Zahl der Toten mittlerweile die Grenze von 8.000 überschritten hat. 

Dennoch Lockerungen

Und dennoch fasste die Regierung am Sonntag Beschlüsse, die beispielsweise die Zeitung "Mladá fronta dnes" zu der Titelzeile ermunterte: „Ende der großen Verbote“. Die Kollegen von "Lidové noviny" schrieben über ihren Aufmachertext: „Ab Donnerstag große Öffnung“. 

Dass diese „große Öffnung“ erst am Donnerstag und nicht wie ursprünglich geplant, schon am heutigen Montag kommt, wurde offiziell damit begründet, dass alle für den großen Tag ein bisschen Vorbereitung brauchten. Im Kern aber hofft man, dass die Zahlen in den Tagen bis zum Donnerstag noch ein bisschen weiter absinken. Zwar haben die bislang geltenden Regeln Früchte getragen. Aber man hatte sich deutlich bessere Ergebnisse erwartet. Ja, die Infektionszahlen sind rückläufig, auch die Kliniken atmen etwas auf. Aber erstens nicht flächendeckend und zweitens ist das Aufatmen geringer als ursprünglich gedacht.

Nun also am Donnerstag doch de facto das Ende des Lockdowns. Die nächtliche Ausgangssperre fällt weg. Sämtliche Geschäfte, nahezu alle Dienstleistungseinrichtungen, alle Restaurants, Hotels und auch die Museen öffnen neuerlich ihre Tore. Ein paar Tage später gibt es auch wieder Unterricht in den Schulen.

Die Lockerungen gehen selbstverständlich mit einigen weiter geltenden Hygienemaßnahmen einher. In den Geschäften sollen jedem Kunden 15 Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen. Wirtshäuser dürfen zwischen 6 und 22 Uhr geöffnet werden und bis zur Hälfte gefüllt sein; an jedem Tisch können nur vier Personen sitzen. In Fitnesszentren gilt auch an den Geräten die Maskenpflicht. 

Es dürfen nun doch auch Weihnachtsmärkte öffnen. Der Staat gibt die Verantwortung dafür an die örtlichen Behörden weiter. Man kann dort zu Essen und zu Trinken kaufen - aber nur zum Mitnehmen. Wie das alles kontrolliert werden soll, ist offen. Gerade die Kontrolle war bislang in Tschechien einer der großen Schwachpunkte.

So sehr die erwähnten Titelseiten der Montagszeitungen pure Freude versprühten, so nachdenklich lesen sich die Kommentarspalten der Blätter. Diejenigen, die der Regierung nahe stehen schieben die Verantwortung dafür, dass die ganze Aktion auch schiefgehen könnte, schon vorab sicherheitshalber allein „verantwortungslosen Zeitgenossen" zu. Leuten, die der Meinung seien, sie hätten das Recht, sich so zu verhalten, wie sie wollten. Die seien „asozial“, wie es martialisch in Lidové noviny heißt. Leider könne man gegen die nicht wirklich radikal vorgehen. „Aber wehe den Corona-Leugnern, wenn die dritte Welle kommt“, endet der Kommentator - was immer er damit sagen wollte.

Für die regierungskritische Hospodářské noviny dagegen stellt die Regierung wirtschaftliche Erwägungen über gesundheitspolitische. Die Regierung wolle den Einkaufszentren in der Vorweihnachtszeit satte Gewinne einräumen und den Kunden damit leidlich schöne Weihnachten bereiten. Wenn jedoch alles schlecht laufe, können dies das Land aber schon vor Weihnachten wieder in die Lage bringen, dass man eigentlich alles wieder dichtmachen müsste. „Das wird aber in der Praxis nicht so werden, weil es einen Tsunami der Unzufriedenheit auslösen würde.“ Also werde man dann nach Weihnachten wieder schließen. Was das alles mit „gesundem Menschenverstand“ zu tun habe, auf den sich die Regierung berufe, bleibe deren Rätsel.