Dass dies der größte Augenblick seiner Karriere wird, liegt auf der Hand, denn ein Auftritt vor mehr Menschen als in der Halftime des Super Bowl, muss erst noch erfunden werden. Also wird Usher Raymond IV in der Nacht auf Montag gegen 2, halb 3 Uhr unserer Zeit, die Bühne im Innenraum des Allegiant Stadiums stürmen. 13 Minuten lang wird er seine Show abziehen, während die Athleten der Kansas City Chiefs und der San Francisco 49ers ein wenig durchschnaufen. Hinterher wird man wohl sagen, das Spektakel sei rasant gewesen, die Gäste überraschend, die Kostüme und Tanzdarbietungen des 45-Jährigen atemberaubend, und überhaupt, man hatte ja gar nicht mehr auf dem Schirm, wie viele Hits dieser Usher doch schon veröffentlicht hat. Gut, die allergrößten Erfolge sind jetzt auch schon so lange her wie die Präsidentschaft Bill Clintons. Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre war der Usher-Sound ubiquitär. Lange vor Nacheiferern wie Justin Timberlake bezirzte der Charmeur nämlich schon das ganz große Publikum mit verführerischem, leicht laszivem, aber auch nie über die Maße anzüglichem R&B, Soul und Pop.

Ushers monströseste Erfolgssongs hießen „You Make Me Wanna…“, „U Remind Me“, „U Got It Bad“ und, ganz besonders auch bei uns, „Yeah!“, der bis heute in Clubs läuft. Allein von seinem vierten Album „Confessions“, 2004 erschienen, verkaufte er heute unvorstellbare zwanzig Millionen Exemplare. Anschließend flachte die Usher-Kurve in Europa ab, doch in seiner Heimat blieb er oben. Er gab den Gastjuror bei „The Voice“, spielte zwei Jahre lang seine „My Way: The Las Vegas Residency“ und hatte schließlich im vergangenen September den Kollegen Jay-Z am Ohr, der mit seiner Firma Roc Nation seit 2020 für Ausrichtung und Besetzung der Halftime-Show verantwortlich zeichnet. „Er meinte zu mir“, so Usher gegenüber der US-amerikanischen Vogue, „das wird dein magischer Moment. Dein Michael-Moment.“ Mit seinem Super-Bowl-Auftritt 1993 gab Michael Jackson seiner bereits Lädierungen aufweisenden Karriere den vielleicht letzten signifikanten positiven Schub.

Ob es also Zufall ist, dass „Coming Home“, der Titel- und zugleich erste Song auf Ushers ab Freitag erhältlichen Albums, so sehr an den gefallenen King of Pop erinnert? Kaum. Die Jackson-typischen Kiekser, Stöhner, Schmachter – alles vorhanden auf dieser hochglanzpolierten, vom nigerianischen Afrobeat-Mann Burna Boy verfeinerten, Pop/R&B-Halbballade. Mit dem Namen des Liedes spielt der Vater von vier Kindern gewiss auch darauf an, dass er „seit 30 Jahren darauf hinarbeitet, genau dort oben auf dieser Bühne in diesem Moment“ zu stehen. Herrlich amerikanisch, aber wer Usher kennt oder schon mal gesehen hat, wird wissen, dass er körperlich und mental wirklich immer topvorbereitet ist. Ferner eilt ihm der Ruf voraus, sich nett, umgänglich und wie ein Gentleman zu gebärden, 85 Prozent seines Publikums, so heißt es, seien weiblichen Geschlechts. Nicht nur Taylor Swift, die Freundin von Chiefs-Tight-End Travis Kelce, sorgt also dafür, dass sich der American Football gerade ganz neue Fangruppen jenseits der Bier-und-Barbecue-Boys erschließt.

Erste Vorbereitungen für den Super Bowl am kommenden Sonntag
Erste Vorbereitungen für den Super Bowl am kommenden Sonntag © AFP / Patrick T. Fallon

Doch zurück zu „Coming Home“, Ushers erstem Studioalbum seit 2016. Die Platte ist nicht schlecht und smart. Neben der Jackson-Referenz gibt es auch eine Verneigung vor dem gerade wieder mit einer neuen Single aufwartenden Billy Joel. „A-Town-Girl“, ein Duett mit R&B-Sängerin Latto, stützt sich auf Joels alten Hit „Uptown Girl“ und überzeugt. Überzeugen können auch „Good Good“ (mit Summer Walker und 21 Savage), worin Usher die Möglichkeit auslotet, nach einer Beziehung befreundet zu bleiben oder „On The Side“, wo es um die interessante Frage geht, wie sehr man sich in seine Affäre verlieben darf, bevor es ein Problem wird. Auch wenn Usher seine schnörkellose und an The Weeknd angelehnte Pop-Seite feiert, wie auf „Kissing Strangers“ und „Keep On Dancin‘“ hat das erstklassigen Unterhaltungswert.

Der Haken: Das Album ist mit seinen zwanzig Songs und 67 Minuten Laufzeit viel zu lang, um mindestens ein Drittel. Irgendwann verliert man in der immergleichen und gelegentlich leicht sülzigen Midtempo-R&B-Beischlafskonstellations-Leier Überblick und Interesse, wacht aber immerhin noch rechtzeitig auf, um mit dem von Andrew Watt (Ozzy, Miley) und Cirkut (Katy Perry) produzierten Schlusssong „Standing Next To You“ für einen wirklich furiosen Discokugel-Abschluss zu sorgen. Am Sonntag, so hört man, könnte Usher die Halftime-Show womöglich auf Rollerskates einläuten. Würde passen.