Das Prinzip der Kennenlern-Applikation Tinder, als Einstieg noch einmal kurz erklärt: Am Smartphone-Display werden Gesichter zur Auswahl vorgelegt, durch vertikales oder horizontales Wischen entscheidet man dann: Dieser Mensch gefällt mir, dieser Mensch gefällt mir nicht. Und umgekehrt. Wenn beide positiv wischen, kann man sich anschreiben. Die Unverbindlichkeit wird zur Potenz erhoben, Anbahnung passiert im Schnellvorlauf.

Süchtig nach Tinder

Nun legt Die Welt in ihrer Online-Ausgabe das Bekenntnis eines gewissen Alexander vor. Dieser ist 38 Jahre alt, im echten Leben durchaus erfolgreicher Architekt, seit drei Jahren Single - und er war süchtig nach Tinder: "Bis vor vier Wochen hat er täglich Hunderte Male darauf geschaut. Was er da gesucht hat? Frauen. Beim Zähneputzen, auf dem Klo, im Auto, während wichtiger Meetings, auf Baustellen, im Restaurant, beim Fernsehen. Immer Frauen", ist da zu lesen. Gut erfunden oder die traurige Realität einer Welt, die sich heute Kontakte und Bestätigung über Programme holt? Oberflächen-Politur für das Ego, sagen Kritiker. Nur ein harmloser Spaß, der die Zeit vertreibt, sagen die anderen.

Es ist jedenfalls ein Erfahrungsbericht, wie er mittlerweile des öfteren im Netz zu lesen ist. Kleine Fingerbewegung, große Illusion: Man(n) blättert durch einen Frauenkatalog (oder umgekehrt: Frau durch das männliche Angebot des Tages), bahnt bei Gefallen den Kontakt an und hat den Eindruck, auf das andere Geschlecht nicht selten wie ein Fliegenfänger zu reagieren. Irgendwann geht es dann offenbar nicht mehr ohne: "Abends konnte Alexander nicht mehr einschlafen, wenn er nicht mit einer chattete. Alexander ist seit drei Jahren Single, aber einsam fühlte er sich erst ohne Smartphone."

"Nomophobie" ist die Abkürzung für die "No-Mobile-Phone-Phobia" (zu Deutsch: "Kein-Mobiltelefon-Angst") bezeichnet. Im Internet finden sich bereits zuhauf Checklisten, anhand derer man erkennt, ob man nicht mehr ohne sein Handy kann. Was Tinder anbelangt, gibt es noch eine zusätzliche Komponente, wie sie bei allen sozialen Medien auch mitspielen kann: Das Verlangen nach kurzfristiger Anerkennung, irgendwo zwischen Gier und Sehnsucht. Dass bei Tinder auch von bescheidenen Antwortraten, plumpen Anmachsprüchen sexueller Natur sowie Langeweile die Rede ist, scheint vor allem im englischsprachigen Raum bislang noch kein sehr großes Problem zu sein.

"Generation Vielleicht"

Als im Februar Facebook und Instagram für kurze Zeit ausfielen und auch von Problemen mit Tinder berichtet wurde, ging die Panik um. Einer der beiden Tinder-Gründer, Justin Mateen, ließ wissen: "Niemand nutzt Tinder, weil er verzweifelt ist." Im Gegenteil: "Wir bekommen jeden Tag E-Mails von Leuten, die uns erzählen, dass sie die Liebe ihres Lebens über Tinder kennengelernt haben und diese Person jetzt heiraten", ist er sich sicher. Auch in der "Generation Maybe" soll es also Menschen geben, die Technologie so nutzen, dass daraus Dauerhaftes enstehen kann, wird die App verteidigt.

Der erwähnte Alexander soll inzwischen "clean" und "geheilt" sein, allerdings sei Enthaltsamkeit für ihn nicht immer einfach, schreibt Die Welt: "Das Handy zu Hause zu lassen sei wie kalter Entzug, sagt er. Selbst verordnet. Wenn er im Café sitzt und zum Nebentisch schaut, an dem zwei junge Frauen sitzen, macht sich der alte Mechanismus bemerkbar: Die linke würde er nach rechts wischen, die rechte sofort nach links."