Herr Weinreich, Sie haben sich als Aufdecker in FIFA-Angelegenheiten einen Namen gemacht. Wie beurteilen Sie die Ereignisse bei der Präsidentenwahl?
JENS WEINREICH: Völlig normal. Das ist die FIFA, das ist die Fußballfamilie, das erlebe ich seit mehr als 20 Jahren auf ungezählten Kongressen, ob das nun IOC-Kongresse sind oder solche der FIFA, das überrascht mich nicht. Ich bin nur immer wieder ein bisschen schockiert über die Inhaltsleere der Reden. Das Abstimmungsverhältnis ist das völlig Normale, das Völkchen schart sich um den Schäfer. Und dann ist da die Feigheit der sogenannten Gegner. Keine Diskussion, kein Gegenwort. Deshalb ist das alles unehrlich und gelogen, Opportunismus, Feigheit. All die, die vorher ein großes Maul hatten, UEFA-Präsident Michel Platini, der deutsche Präsident Wolfgang Niersbach, keiner hat nicht ein Wort auch nur zu Protokoll gegeben. Ich sage, es zählen keine Worte. Es zählt nur der Aufstand, in dem Moment, wo es drauf ankommt. Das ist eine Schande.

Worauf führen Sie dieses Verhalten zurück?
WEINREICH: Nun, man weiß es ja. Es ist nachgewiesen, dass UEFA-Funktionäre auch korrupt sind. Acht Leute aus der UEFA-Führung sitzen in der FIFA-Spitze. Wir wissen über Platinis Verstrickungen zu Katar. Sein Sohn ist seit 2011 für katarische Firmen tätig. Oder der wichtigste Wahlhelfer von Platini ist Marios Lefkaritis aus Zypern, Schatzmeister der UEFA. Der hat nach der WM-Vergabe an Russland und Katar einen Riesenvertrag mit Katar abgeschlossen und für mehr als 30 Millionen Euro eine Landzunge auf Zypern verkauft. Und er hat dann gleich riesige Geschäfte mit Gazprom gemacht. Die sind alle Teil der großen, verlogenen FIFA-Familie, die nach mafiösen Strukturen funktioniert. Gehorsam, Feigheit, Verlogenheit. Und sie haben auch kein Profil, selbst Platini nicht.

Sepp Blatter wird im engen Mitarbeiterkreis auch als Gentleman bezeichnet. Wie nehmen Sie ihn persönlich wahr?
WEINREICH: Im persönlichen Umgang ist er ein Charmeur, man kann Spaß mit ihm haben. Den Gentleman-Begriff würde ich nicht benützen. Man muss immer gewahr sein, was dieser Mann für eine Geschichte hat, was er hauptsächlich macht.

Wie reagiert er Ihnen gegenüber, die ihn unter anderem als moralisch korrupt bezeichnen?
WEINREICH: Blatter ist im Grunde ein sehr unsicherer, ängstlicher Mensch. Ich hatte Interviews mit ihm, die hat er abgebrochen, weil er es nicht mehr ertragen hat und nach einer Stunde kam er wieder. Dann kommt er mit einem Hundeblick und sagt: Ich bin nicht korrupt. Wenn man ihn konfrontiert, ist er total ängstlich.

Wie haben Sie im Rückblick am Wahltag Blatter persönlich wahrgenommen. Wirkt das nicht alles ziemlich zynisch?
WEINREICH: In dem Moment, in dem er sich sicher fühlt, kommt wieder dieser verlogene Unsinn. In der UEFA herrsche Hass auf ihn und all so was. Das erzählt der Typ seit 20 Jahren. Das ist unerträglich. Es wirkt aber in dieser mafiösen Familie.

Wie muss man sich diese mafiösen Strukturen denn nun innerhalb der FIFA vorstellen?
WEINREICH: Jeder kennt Mafia-Filme. Jeder sollte den Paten angucken. Der erste Teil reicht. Genauso läuft es in der FIFA. Der erste Teil beginnt damit, dass bei der Hochzeit die Leute aufmarschieren und ihre Gunst bezeugen, in dem sie ihm den Ring küssen und ihre Wünsche äußern. Genau das sieht man nach FIFA-Wahlkongressen. Da steht Blatter dann da, hält Audienz und seine ganzen Jünger marschieren auf. Fehlt nur noch, dass ihm einer die Hand küsst. Journalisten dürfen inzwischen nicht mehr rein. Das habe ich früher ganz gern fotografiert. Da hat man gesehen, wer ihm Geschenke überreicht. Und das andere ist die Struktur des Weltfußballs. Nehmen wir die 14, gegen die jetzt Anklage erhoben wird. Alle diese Verbrecher wurden von Blatter immer geschützt. Jack Warner hat ihm die Stimmen aus Nord- und Mittelamerika serviert, Südamerika stand einhellig hinter ihm. Gibst du mir, geb’ ich dir. Der kleine Unterschied: Es muss immer wieder mal gewählt werden. Und alle wissen: Wenn wir unseren Paten wiederwählen, dann werden wir auch gut behandelt und gut bedient.

Warum gelingt es eigentlich nicht, der Person Joseph Blatter persönlich habhaft zu werden? Hängt es auch damit zusammen, dass er als Schweizer in einem geschützten Raum lebt?
WEINREICH: Die Schweiz bietet tatsächlich IOC, FIFA und anderen korrupten Organisationen eine wunderbare Heimat. Insofern war dieser Mittwochmorgen und die Festsetzung von den sieben Leuten hier in der Schweiz auf Amtshilfeersuchen der Amerikaner schon ein Dammbruch. Das hat Angst ausgelöst, man kann sich hier nicht mehr so sicher fühlen. Das erste Mal hat die Schweiz hier gehandelt. Wahrscheinlich, weil es die Amerikaner waren. Mit denen ist in dieser Hinsicht nicht zu spaßen. In der Schweiz war Korruption lange Zeit nicht strafbar. Es gibt auch moralische Korruption, so gesehen kann ich immer sagen, moralisch gesehen, ist Sepp Blatter ein korrupter Mensch. Solches strafrechtlich zu würdigen ist in den meisten Ländern erst seit Kurzem möglich. Aber es ist ein globales Geschäft. Und das alles international zu recherchieren und juristisch abzugleichen, ist extrem schwer. Wie wollen Sie das in Russland und Katar (umstrittene Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 u. 2022, Anm.) durchziehen?

Sie haben kürzlich selbst gesagt, die FIFA ist nicht reformierbar, die könne man nur zerschlagen. Wie wäre das denkbar?
WEINREICH: Man kann sie in der Tat nur zerschlagen. Auch die Kontinentalverbände müssten aufgelöst werden, ebenso wie die Top-Management-Ebenen. Es wäre problemlos möglich mit Leuten aus der zweiten und dritten Reihe, die unbelastet sind. Der zweite extrem wichtige Punkt ist juristischer Druck. Die müssen Angst haben, in den Knast zu gehen, so wie wir es jetzt erleben. Dass Leute wie Jack Warner oder Jeff Webb auspacken.

Wäre es denkbar, dass ein Mann wie der jetzt verhaftete Webb Blatter zu Fall bringt?
WEINREICH: Ja. das ist die naheliegendste, vielleicht einzige Option derzeit. Da geht es um mehr als um Blatter. Wenn Blatter zu Fall gebracht wird, bricht alles zusammen, fallen all seine Vasallen mit. Eine andere Option wäre halt, einfach raus zu marschieren. Ich glaube nicht, dass es eine Utopie ist. Warum soll das nicht geschehen? Leider wurde diese Chance jetzt verpasst. Aber das kann ich verlangen als Bürger. Dass jemand aufsteht mit Rückgrat und sagt: Kommt, wir gehen, wer zieht mit?

Sind Sie aufgrund ihrer Enthüllungen mit Restriktionen bzw. Klagen konfrontiert gewesen?
WEINREICH: Ja, das habe ich öfter mal gehabt. Die FIFA hat mich einmal zur unerwünschten Person erklärt. Dann bin ich an dieses Protokoll gekommen und habe eine Email mit einer Anfrage geschickt. Ich habe sofort einen Termin bekommen. Er wollte nur wissen, was meine Quelle ist, das war natürlich sinnlos. Ich habe ihn gefragt: Bin ich nun unerwünschte Person? Da hat er gesagt: Das kommt von der Ethik-Kommission, und das Exekutivkomitee muss es erst genehmigen. Ich sage: Hat es das? Er wieder: Wer legt denn die Tagesordnung fest? Ich sage: Na, Sie. Und dann sagt er: Natürlich, halten Sie mich etwa für so doof, dass ich so etwas auf die Liste setze?

INTERVIEW: HUBERT GIGLER